zum Hauptinhalt

Berlin: York Kirsch (Geb. 1937)

Mit dem kleinen Glück kam er gut zurecht

Wie soll ich leben?“ Den zehn Geboten folgen, den zehn Geboten Montaignes! Erstes Gebot: „Werde geboren!“ Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, auf der Welt zu sein und zu überleben, schon gar nicht, wenn die Welt in Trümmer sinkt. Seine Kindheit verbrachte York auf einem Schloss in Schlesien, 24 Pferde, 60 Rinder, sechs Traktoren, eine Postkutsche und ein Mercedes, für den bald nach Kriegsausbruch das Benzin fehlte. Dennoch gelang die Flucht, die Familie rettete sich nach Berlin, wo sie nach der Kapitulation bei der Großmutter im Botanischen Garten wohnte.

Dahlem Dorf war Yorks Zuhause, ein wenig Krähwinkel, ein wenig akademischer Olymp. „Lebe den Augenblick!“ Mit Hut und Stock ging da der Großvater flanieren und grüßte alle, die ihm begegneten formvollendet, gab großartige Trinkgelder und spendete, ganz alter Gutsherr, auf der Domäne den Arbeitern Ratschläge in Sachen Pflügen und Säen. „Sachsen, drei Pfennig rot“, vom Verkauf dieser Briefmarke konnte der Großvater gut leben, den Familienring hingegen verkaufte er nicht, den vererbte er seinem Enkel York. Von den Großvätern mütterlicherseits hatte er eine schwerere Erblast. Der Urgroßvater, Hermann Diels war ein berühmter Philologe, der Großvater Ludwig Diels Herr über den Botanischen Garten und ein Forscher von Rang, unmöglich für den Enkel, den Fleiß der Väter zu überbieten. Die Liebe zur Gelehrsamkeit erbte er, aber sie wurde nicht beherrschend.

„Lies viel, vergiss das meiste wieder.“ Immer wieder fand York Kirsch Trost in den Essays Montaignes. Sein Vater, Rittmeister und Offizier der Reserve war früh gestorben, was wiederum York lehrte, immer das Wozu seines Tuns im Blick zu behalten: „Selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unserem Arsch.“ Genau das wollte er vermeiden. Stillsitzen. Niemals still sitzen! „Schau dir die Welt an!“

Mit zwölf machte er die erste große Radtour durch Norddeutschland, mit 15 die erste Deutschlandtour. 50 Kilometer im Tagesschnitt, die Fahrräder ohne Gangschaltung, einziges Doping: Coca Cola, 25 Pfennig die Flasche, viel Geld damals.

„Tu etwas, was noch nie zuvor jemand getan hat!“ Folge Montaigne mit dem Rad, über die Alpen und den Brenner nach Bozen und weiter nach Rom. Die Welt war offen. „Stelle alles in Frage!“

York studierte in Tübingen und Freiburg, nicht zu groß, nicht zu klein die Städte, er wohnte bei einer Arbeiterfamilie mit fünf Kinder, das lehrte ihn das ganze andere Leben. „Sei gesellig, lebe mit anderen!“ Wie sonst kann man sein Ego erkunden, wenn nicht im Spiegel, den einem die Mitmenschen vorhalten.

„Kann ich heute Nacht hier schlafen?“, den Satz beherrschte er bald in allen Sprachen, denn das Beste am Jurastudium waren die Semesterferien. Er fuhr nach Mexiko, trampte weiter nach Kolumbien, reiste mit dem Schiff zurück nach Ibiza, immer auf der Suche nach sich selbst. Alle Romanzen ließ er zurück. Sein Herz hing an nichts, und dann doch wieder an Frauen, die sein großes Herz nicht so ganz fassen konnten.

Nach einigen Jahren Auszeit absolvierte er das zweite Staatsexamen und verließ sich bei der Berufswahl wie immer auf sein Glück.

„Sei gewöhnlich und unvollkommen!“ Er war ein guter Jurist, aber kein herausragender, das wusste er auch, und so nahm er das Angebot, in der Schadensabteilung eines Versicherungskonzerns zu arbeiten, sofort an. „Mache deine Arbeit, aber nicht zu gut!“

Mit 63 ging er in Rente und tat, was er am liebsten tat: reisen und lesen. Was ist Glück? In den Büchern keine Antworten zu finden, sondern neue Fragen, die ihn geradewegs wieder in die Buchhandlung führten.

„Erwache aus dem Schlaf der Gewohnheit!“ Immer und immer wieder. Überrasche dich selbst, sei eine Zumutung, für dich, für andere! York gab die Hoffnung auf Liebe nie auf, auch wenn er das große Glück nicht mehr fand. Mit dem kleinen Glück kam er gut zurecht.

Er hat vier CDs besprochen, sein Testament, in dem er nicht viel Aufhebens von sich gemacht hat, das verbot „die Höflichkeit des Herzens“. Aber er wollte ein Beispiel geben für ein mutiges Leben im Kleinen. In seinem letzten Urlaub ließ er sich ein T-Shirt mit dem Credo der Glaubensbrüder Montaignes bedrucken: „Ich erwarte nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.“ Gregor Eisenhauer

Zur Startseite