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Berlin: Wolfgang Fritz (Geb. 1944)

„Kleinfamilie war mal Ziel gewesen. Das kam abhanden“, steht in einem Nachruf, den er drei Jahre vor seinem Tod auf sich selbst verfasste.

Auf einem Kinderfoto sieht man ihn in einer großen Blechwanne im Garten sitzen. Seine Ohren stehen etwas ab, er nuckelt am Daumen. Komplett angezogen mit Hemd und Lederhose sitzt er in der Wanne und blickt zufrieden. Ein weiteres Foto, 40 Jahre später: Lächelnd hält er eine Zigarette in der Hand und telefoniert in seiner Charlottenburger Altbauküche. Ein zotteliger roter Schal überm kurzärmligen Hemd. Er trägt Brille und einen gepflegtem Trotzkistenbart. „Die Küche wurde der zentrale Ort in der Wohnung“, steht unterm Foto.

Viele Wandervögel saßen in dieser Küche. Gemeinsam war ihnen, irgendwann aufgelesen worden zu sein, irgendwo zwischen „Far Out“, „Big Eden“ und „Café Moskau“: Ein Chilene aus Ost-Berlin, der zurück über den Atlantik wollte, ein Filmwissenschaftler aus Budapest, eine junge Thailänderin, die als Schönheitstänzerin in die Schweiz zog und ihren Verwandten seine Adresse hinterließ. Es sprach sich herum, dass bei Wolfgang Fritz Obdach zu bekommen war. Seine bürgerlichen Freunde und Arbeitskollegen vom Bundesinstitut für Berufsbildung waren etwas skeptisch, aber er gefiel sich in der Rolle. Er war ein Grenzgänger, und die Grenze, die es ihm am nachhaltigsten antat, war die, die mitten durch Berlin verlief.

In der Mittelstufe erregte er Aufmerksamkeit, als er Russisch lernen wollte. Der angesetzte Kurs fand zur nullten Stunde und nur ein einziges Mal statt, da außer ihm kein weiterer Schüler erschien. Ein einjähriger Aufenthalt an einer Quäker-High-School in Pennsylvania läuterte ihn zum Pazifisten. Zurück in Berlin wollte er eine repräsentative Umfrage zur Wiedervereinigung durchführen, doch die Schule verbot ihm das. Mit dem Studium der Betriebswirtschaft ließ er sich Zeit. Es gab so viele Demonstrationen in der Zeit. Um seinen Protest gegen eine besonders perfide Form der kapitalistischen Verkürzung von Lebensdauer kundzutun, schrieb er seine Abschlussarbeit über „geplante Obsoleszenz“, das Veralten von Produkten, nach deren rechtzeitigem Ableben neue gekauft werden sollen.

„Studienreisen“ nannte er seine regelmäßigen Besuche der DDR. Zu viert im Auto fuhren sie die Alleen entlang bis nach Rügen, um einmal nackig in die Ostsee zu springen und am selben Abend wieder zurück nach Berlin zu bummeln. Er besuchte regelmäßig das Café Nord an der Schönhauser Allee und mischte sich unter seine Landsleute von der anderen Seite. Um nicht gleich als Westler erkannt zu werden, rauchte er „Caro“. Wenn die Besuchszeit um Mitternacht endete, ging er zurück zum Grenzübergang, um hinter der Grenze kehrtzumachen und erneut in Ost-Berlin einzuchecken. Für Freunde und Bekannte im Osten schmuggelte er Zeitschriften und Haarfärbemittel, Stadtpläne und Reiseführer. Einmal besorgte er eine große runde Badewanne. Sie passte gerade so in einen VW-Bus. Der galt als Pkw, und so fielen keine Zollgebühren an.

Einmal wurde er an der Grenze mit einem Brief erwischt, den er im Westen einwerfen sollte, und kam in Untersuchungshaft, wurde stundenlang verhört, am Schlafen gehindert, wieder freigelassen. Und überlegte sich weitere Hilfsaktionen. Um einer Freundin die Ausreise zu ermöglichen, lebte er mehrere Monate bei ihr in Ost-Berlin und gaukelte den Behörden eine Beziehung vor. Die Pro-forma-Hochzeit sollte folgen, doch sie floh schließlich über die ungarische Botschaft.

Am Vorabend der großen Kundgebung vom 4. November 1989 verboten ihm die Freunde ausdrücklich, herüberzukommen. Sie wollten es alleine schaffen und ihn nicht gefährden. Als eine Woche später die Mauer fiel, saß er nichts ahnend in seiner West-Berliner Stammdisko. Um zwei Uhr früh trat er auf die Straße und sah die Trabbis auf dem Ku’damm.

„Kleinfamilie war mal Ziel gewesen. Das kam abhanden“, steht in einem Nachruf, den er drei Jahre vor seinem Tod auf sich selbst verfasste. Als passionierter Tagesspiegel-Weihnachtsrätsellöser spekulierte er offen auf eine letzte posthume Veröffentlichung seines Namens. Auch vom Grund seines Ablebens ist in dem Text bereits die Rede: „Am Bierkonsum ist er gestorben. Und an den Zigaretten.“ Er sollte Recht behalten.

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