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Wolf Bayer (1948-2017)

© privat

Berlin: Wolf Bayer (Geb. 1948)

„Sie glauben, dass Sie für den öffentlichen Dienst geeignet sind?“

Als in Berlin die Mauer fiel und die ganze Stadt auf den Beinen war, dachte Wolf Bayer zu Hause in Kreuzberg über die Chaostheorie nach und war folglich nicht zu bewegen, auf die Straße zu gehen. Der Mathematiklehrer hatte sich für drei Jahre beurlauben lassen, promovierte und empfand es als enormen Luxus sich jenseits der flüchtigen Tagespolitik ganz auf Fraktale, dynamische Systeme und homokline Orbits zu konzentrieren. Obwohl er Texte mit durchaus eingängigen Titeln verfasste wie „Katzen auf Zypern: Auf Samtpfoten ins Chaos“, blieb seine Passion eine Geheimwissenschaft. Seine Freunde, die in diesen Tagen lieber feierten oder sich die Köpfe heißredeten über das Für und Wider einer Wiedervereinigung, konnten ihm nicht folgen. Dabei war Wolf alles andere als ein unpolitischer Mensch, immer wieder hatte er sich in die Niederungen des Zeitgeschehens eingemischt, im Zweifel auf der Seite der Benachteiligten.

Seine Kindheit beschreibt er so: „Das Leben als rothaariger, kleiner, schwächlicher und ärmlich gekleideter Knabe im pietistisch geprägten Württemberg war kein Zuckerschlecken. Wer wollte, durfte einen verprügeln, der Vater stand manchmal sogar daneben; klar, er ist ja rothaarig. Oft erschallte eine Knabenstimme hinter einem Gartenzaun hervor: ,Kupferdächle, Kupferdächle‘ oder ,Rotfüchsle, Rotfüchsle‘. Freunde oder Freundinnen hatte man keine. Gott sei Dank haben sie in diesem Landstrich inzwischen aufgehört, Rothaarige anzuzünden. Aber wozu klagen, unehelich Geborene hatten es noch viel schwerer.“

Zu Hause waren sie vier Kinder, die Eltern Lehrer an einer Waldorfschule. Es ging bildungsbürgerlich zu, doch es fehlte an Herzensbildung. Kreativität wurde zwar großgeschrieben, die aber sollte auf dem Klavier ausgelebt werden, andere Instrumente blieben dem musikalischen Wolf verwehrt. Auch Abspielgeräte jeder Art waren verpönt, die Kinder hätten ja heimlich Jazz oder Beat hören können. Blasinstrumente kamen nicht infrage, und seine erste Gitarre bastelte er sich selbst zusammen. Überhaupt wurde er früh selbstständig. Der kluge und auch ein wenig altkluge Junge wurde mit fünf Jahren eingeschult und musste täglich die Bahnfahrt zur Waldorfschule im fernen Stuttgart allein bewältigen. In der Stadt gab es die heiß geliebten Butterbrezeln. Weil Wolf kein Taschengeld bekam, wurde er der jüngste Pfandflaschensammler am Hauptbahnhof.

„Make love, not war!“, „Ho, Ho, Ho Chi Minh!“: Von Hippiekultur und Studentenrevolte fasziniert, gründete Wolf die Schülerband Children Of Sun und ging auf Demonstrationen. Er entdeckte seinen revolutionären Geist, was gut passte, denn er war auf den Tag genau einhundert Jahre nach der Berliner Märzrevolte von 1848 auf die Welt gekommen. Später setzte er sich mit der „Aktion 18. März“ für einen gemeinsamen Feiertag in beiden deutschen Staaten ein.

Neben der Weltverbesserung faszinierten ihn weiterhin die Mathematik und die Musik. Es fiel ihm nicht leicht, sich für ein Studienfach zu entscheiden; schließlich war es die Mathematik. In Tübingen machte er sein Vordiplom, um danach so schnell wie möglich nach Berlin umzuziehen, in die Hauptstadt der Revolution.

„Sie sind ja als Liedermacher-Duo aufgetreten und haben politisch kritische Lieder vorgetragen. Und sie glauben wirklich, dass Sie für den öffentlichen Dienst geeignet sind?“ So fragte ihn der Schulrat im Bewerbungsgespräch. Und beantwortete die Frage selbst mit einem entschiedenen Nein. Ein Jahr Berufsverbot, Begründung: Wolf sei als Mitglied der „Vereinigung sozialistischer Kulturschaffender“, einer Abteilung der „Liga gegen den Imperialismus“, zu oft und zu weit „links von der Mitte“ auffällig geworden. Gemeinsam mit seiner Freundin Doris Löschin hatte er ja nicht nur harmlose Altberliner Lieder von Claire Waldoff vorgetragen, sondern auch hochpolitische. Sie eckten nach allen Seiten an, ein selbst geschriebenes Rote-Fahne-Lied brachte zusätzlich zehn Jahre Einreiseverbot in die DDR.

Hätte es die Privatschulen im gutbürgerlichen Süden Berlins nicht gegeben, vielen jungen Lehrern dieser Zeit wäre der Weg in ihren Beruf verwehrt geblieben. Der vom öffentlichen Dienst verschmähte Nachwuchs war ja fachlich überaus geeignet und dazu noch engagiert. Das Königin-Luise-Stift in Dahlem war Wolfs erste berufliche Station, aber so gediegen das Umfeld, so wenig glücklich wurde er dort. Die Kinder reicher Eltern brauchten ihn doch gar nicht. Wer brauchte ihn? Natürlich die Kreuzberger Arbeiterkinder!

Nach dem Einzug der Alternativen Liste ins Kreuzberger Bezirksparlament war der Weg frei, und er wechselte auf die Hector-Peterson-Schule. Wolf hatte die neue Grüne Partei im Oktober 1978 in der Hasenheide mitgegründet. Im Gegensatz zu der harmlos anmutenden Sonnenblume, dem Logo der westdeutschen Grünen, repräsentierte der stachelige Igel der Berliner „Alternativen Liste“ eine weniger biedermeierliche Haltung: zwar ein Einzelgänger, aber durchaus sozial, wenn es darauf ankommt, außerdem wehrhaft, jedoch nicht aggressiv.

Wolf Bayer konnte über die Ursprünge der Partei fesselnd erzählen. Er erinnerte an die Siebziger, das linke Jahrzehnt, man wählte SPD, diskutierte über Gesamtschulen und Chancengleichheit und erklärte seine Sympathie mit den Geknechteten. 1976 wurde Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert: „Wenn da einer, der mit der Gitarre ein paar kritische Lieder singt, gleich ein Staatsgefährder sein soll, kann dieses Land nicht das Arbeiter-und-Bauern-Paradies sein.“ Mit dem Terrorismus fiel ein Großteil der radikal linken Bewegung in sich zusammen. In China hielt nach dem Tod von Mao Tse-tung mit Deng Xiaoping der Kapitalismus Einzug. Und dann wurden die ersten Kernkraftwerke gebaut. 1977 kam es in Essen zu einer Demonstration mit einer halben Million Teilnehmern, von den Gewerkschaften organisiert: Die Energiearbeiter bekamen frei und demonstrierten für die Atomkraft. „Das hat den restlichen Linken, den Spontis und anderen, den Boden unter den Füßen weggezogen. Sich ständig für die Arbeiterklasse ins Zeug zu legen, Berufsverbote zu kassieren und dann so im Stich gelassen zu werden. So kam die Entscheidung, wir machen einen eigenen Verein auf und orientieren uns nicht an der Arbeiterklasse, sondern machen unsere eigene Politik: eine Mittelschichtspolitik, eine akademisch geprägte, zukunftsorientierte, also eine grüne Politik.“

Fürs politische Handwerk war Wolf allerdings nicht geschaffen, zu ausgleichend und besonnen, zu intellektuell, und abends machte er lieber Musik, als in endlosen Sitzungen zu schmoren. So treu er war – für Christian Ströbele spielte er mit den Boxhagener Stadtmusikanten am Wahlkampfstand – so sehr befremdeten ihn allzu realpolitische schwarz-grüne Gedankenspiele: „So weit ist es also gekommen, dass ich die Grünen als kleineres Übel wähle.“

In den achtziger Jahren schwappte eine Tanzwelle über die Stadt, Tango Argentino, Swing und Latino-Rhythmen bis hin zu Wiener Kaffeehaus-Musik. Wolf entwickelte mit seiner Tanzkapelle Pourquoi Pas eine tanzbare Jazzmusik „mit wenig Noten und viel Improvisation“.

„Wir sind lange umeinander rumgetänzelt“, sagt Britta Sutorius. Ein Jahr lang tanzten sie Tango, dann blieben sie 30 Jahre lang zusammen. Als Kölnerin ließ Britta nichts aus, was man feiern konnte. Sie lud ein, und er kochte. Ente vor allem, und auch sonst alles, was man braten konnte – in seinem anthroposophischen Elternhaus hatte es kaum Fleisch gegeben. Wenn Britta wollte, dass er kochte, musste sie nur sagen, sie plane etwas Vegetarisches.

Sie kamen rum in Berlin: Wolf half beim Aufbau der Kurt-Schwitters-Schule in Prenzlauer Berg, dann zogen sie nach Karlshorst, nach Friedrichshain und schließlich nach Dahlem.

In den letzten Jahren ging vieles langsamer und manches mühsamer. Sein Herz wurde schwächer. Obwohl Wolf Bayer noch eine Menge Pläne hatte – vor allem natürlich den ersehnten Umzug zurück nach Kreuzberg, außerdem die Gründung einer neuen Band –, kokettierte er damit, „der faulste Rentner Berlins“ zu sein. Das war zwar Quatsch, die Einschränkungen aber, die ihm sein Körper diktierte, nahm er hin und fand, er dürfe da nicht mit zu vielen Arztbesuchen Unruhe zu stiften.

Sein Herz dankte es ihm zwar nicht mit Genesung, aber mit einem gnädigen Tod: Es blieb stehen, als er schlief.

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