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Mehr als 700.000 Menschen nutzen in Berlin eine Kleingarten.

© imago/Arnulf Hettrich

Wohnraumkrise: Schenkt den Kleingärtnern Baurecht!

Unser Gastautor hat einen radikalen Vorschlag: Schenkt den Gärtnern Baurecht, dann gibt es Wohnraum für mehr als 733.000 Menschen. Ein Kommentar.

Die Wohnraumkrise in Berlin spitzt sich zu. Gleichzeitig liegt mitten im Stadtgebiet eine gewaltige Fläche von fast 30 Millionen Quadratmetern, die mehr als 700.000 Menschen, einem Fünftel der Stadtbevölkerung, ein Zuhause bieten könnte: die Berliner Kleingartenkolonien. Fast täglich werden deshalb neue Forderungen nach einer vollständigen oder teilweisen Bebauung der Kleingärten laut.

Natürlich stößt das auf den erbitterten Widerstand von Kleingärtnern und Umweltverbänden, so dass jedes einzelne Bauvorhaben auf Kleingartenland ein politischer Gewaltakt ist, der bis jetzt fast immer gescheitert ist. Soll eine Kolonie überbaut werden, müssen dafür bisher ganze Kolonien mit einem Bebauungsplan überplant, entpachtet oder enteignet, komplett abgerissen und mit einem neuen Grundriss überbaut werden.

Kleingärten sind eine Nische und absolut erhaltenswert. Nur muss es möglich sein, ein paar Grundstücke zum Bebauen für Schulen, Krankenhäuser und ausschließlich den sozialen Wohnungsbau zu verwenden.

schreibt NutzerIn ausBerlinP

Somit werden alle Kleingärtner vertrieben und die für Berlin wichtigen ökologischen Nischen zerstört. Wirklich sozialer Wohnraum entsteht so nicht. Die auf der ehemaligen Kolonie Oeynhausen in Charlottenburg entstehenden Wohnungen kosten zum Beispiel ab 4700€/m². Ein umsetzbares Konzept, wie enteignete Kleingärtner entschädigt werden können, gibt es nicht.

Der Senat könnten diesen Wohnraum für ein Fünftel der Stadt aktivieren

Selbst wenn der Senat sich entscheiden würde alle Gartenflächen zu bebauen, erscheint es also unplausibel, dass die Vorgehensweise von Abriss, Verdrängung und Neubau schnell umsetzbar und in den Konsequenzen wünschenswert wäre. Dabei könnte der Senat diesen Wohnraum für ein Fünftel der Stadt aktivieren. Ohne selbst zu bauen, was ihm meistens nicht so gut gelingt, und ohne sein Eigentum an Investoren zu verlieren, was die Wähler nicht gerne sehen.

Mit diesem einfachen Zwei-Punkte-Plan könnten die Kleingärten ohne Verdrängung und Zerstörung der Gartenbiotope schnell mit wirklich sozialem Wohnraum bebaut werden:

1. Parzellen statt Kolonien werden als Bauland ausgewiesen

Der Senat stellt einen neuen Flächennutzungsplan auf. Statt wie bisher ganze Kolonien mit neuen Grundrissen zu beplanen, wird darin die einzelne Parzelle in ihrem jetzigen Zuschnitt zum Bauland erklärt. Jede einzelne Parzelle ist also ab sofort und unabhängig von der Nachbarparzelle bebaubar. Statt von Großinvestoren gebauter Wohnblocks, die die Gartenbiotope ausradieren und alle Bewohner verdrängen, können einzeln kleine Häuser aus den Gärten wachsen.

Der Erhalt des jetzigen Zuschnitts der Parzellen hat den Nachteil, dass die meisten dieser neuen Baugrundstücke nicht mit dem Auto erreichbar sind. Aber wir leben im 21. Jahrhundert, und es gibt Fahr- und Lastenräder, Elektroscooter, Rollstühle und Beine. Baustellen müssten von der nächsten Straße mit Rollwägen beliefert werden, was bei kleinen Bauvorhaben unproblematisch ist.

Die Kleingärtner werden so zu Immobilienentwicklern. Ihnen wird ein großes Geschenk gemacht: Ihr vorher wertloses Grundstück wird über Nacht zum langfristig gesicherten Bauland. Jede Pächterin, jeder Eigentümer hat jetzt die Wahl:

- Das Baurecht selbst zu nutzen und ein Haus für sich oder zur Vermietung zu bauen.

- Das Eigentum oder im Regelfall den Pachtvertrag, die jetzt wertvoll sind, zu verkaufen.

- Nichts zu machen. Wer nicht bauen will, kann einfach seinen Kleingarten behalten.

Die vielen Menschen, die illegal in ihren Kleingärten leben, können außerdem ab sofort legal einen Briefkasten aufhängen und müssen die Post nicht mehr bei ihrer Tante abholen. Nur ein Gärtner, der verkaufen möchte, muss seinen Garten aufgeben. Eine unfreiwillige Verdrängung kann nicht mehr stattfinden.

2. Alle Pachtverträge werden ab sofort um 99 Jahre verlängert

So haben die Pächter eine wirklich belastbare Entwicklungsperspektive. Nach Ablauf der 99 Jahre müsste die Stadt dem Pächter den Zeitwert der in der Zwischenzeit gebauten Immobilie bezahlen, um den Pachtvertrag zu kündigen. Erbpachtverträge bieten also langfristige Planungssicherheit. Der Senat würde hiermit kein Land verschenken, sondern lediglich die bisherigen Pachtverträge zu unveränderten Konditionen verlängern.

Der neue Flächennutzungsplan braucht nur wenige, einfache Regeln um Wohnraum zu schaffen und gleichzeitig die Biotope zu erhalten:

Der neue Flächennutzungsplan braucht nur einfache Regeln um Wohnraum zu schaffen und gleichzeitig die Biotope zu erhalten.
Der neue Flächennutzungsplan braucht nur einfache Regeln um Wohnraum zu schaffen und gleichzeitig die Biotope zu erhalten.

© Illustration: Alessandro Cugola und Julian Breinersdorfer

- Die Grundstücke dürfen höchstens bis zu einem Drittel und mit maximal drei Stockwerken bebaut werden. So kann die komplette Fläche der Berliner Kleingärten, 29 Millionen Quadratmeter, als Wohnraum genutzt werden, und Platz für ca. 733.000 Berlinerinnen und Berliner geschaffen werden, also für 20 Prozent der Stadtbevölkerung. Trotzdem bleiben zwei Drittel der alten Gartenfläche erhalten.

- Grundstücke dürfen nicht zusammengelegt, Häuser nicht verbunden werden. Diese Kleinteiligkeit und Individualität ist sehr unattraktiv für Großinvestoren, aber attraktiv für beispielsweise Familien, die ein besonderes Haus im Grünen suchen.

- Beim Baugenehmigungsverfahren wird geprüft, ob die Gartenflächen durch die Platzierung des Baukörpers und die Baustelle möglichst wenig geschädigt werden. Da nicht eine ganze Kolonie auf einmal entwickelt wird, können von Baumaßnahmen beeinträchtigte Tiere auf benachbarte Parzellen ausweichen.

- Alle Dachflächen müssen intensiv begrünt werden, so dass sich die begrünte Fläche der Kleingartenanlagen von heute ca. 85 Prozent auf bis zu 100 Prozent vergrößert.

- Es dürfen keine Keller gebaut werden, so dass das Grundwasser nicht beeinträchtigt wird.

Die Zeichnung zeigt ja, dass der Charakter sehr kleinteilig bleibt, dennoch Behausungen größer als ein Hühnerstallformat möglich sind. [...] Insgesamt vielversprechender als eine Hochhausverdichtung in der Innenstadt und ein doch recht langsamer Bau von neuen Großsiedlungen.

schreibt NutzerIn Pacificus-1960

Zusätzlich muss der Senat schnell in den Anschluss von Medien investieren. Nicht alle Kolonien sind z.B. an die Kanalisation angeschlossen. Die Kosten hierfür werden über eine Anschlussgebühr aufgefangen. Um die Nutzung von nicht angeschlossenen Flächen dadurch nicht zu bremsen, werden umweltfreundliche Komposttoiletten genehmigt.

Um Platz für Kitas, Schulen und Gebäude für Infrastruktur zu schaffen, muss der Senat einige Pachtverträge für Gartengrundstücke zum Marktpreis kaufen. Neue Feuerwehrzufahrten müssen nicht geschaffen werden. Die Brandschutzsachverständige Diana Gennaro stellt fest, das in den Kolonien ausreichend Zufahrten und Hydranten vorhanden sind.

Mit einem neuen Flächennutzungsplan wäre die Wohnraumkrise gelöst

Um Grundstücksspekulationen zu verhindern, kann der Senat bei der Neuwidmung von Bauland eine sogenannte Wertabschöpfung festlegen. Damit wird die Stadt, und damit die Steuerzahler, an Gewinnen durch Grundstücksverkäufe beteiligt. Auch eine Festlegung, dass jede juristische Person nur ein Grundstück entwickeln darf, oder ein zeitlich gestaffeltes Weiterveräußerungsverbot sind denkbare Spekulationsbremsen.

Mit dem Inkrafttreten des neuen Flächennutzungsplanes wäre die Wohnraumkrise in Berlin von einem Tag auf den anderen entschärft. Es sind momentan wenige Wohnungen und praktisch keine Grundstücke für Wohnungsbau auf dem Markt. Diese extreme Verknappung lässt die Preise in Regionen weit jenseits der Reichweite von Kleininvestoren explodieren. Es ist davon auszugehen, dass die schiere Maße von neuem Bauland für ein Fünftel der Stadtbevölkerung diese Preisexplosion schlagartig beenden wird.

Eine radikal neue, aber tief in den Berliner Stadtgrundriss verwurzelte Kieztypologie kann entstehen: Ein Mix aus alten Kleingärten, Ein- und Mehrfamilienhäusern, neuen Bewohnern und gewachsenen Strukturen, dörflich und urban zugleich, grün und ein bisschen improvisiert; ein Fünftel mehr Berlin.

Julian Breinersdorfer ist Architekt in Berlin.

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Julian Breinersdorfer

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