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Im neuen Zuhause. Seit dem die 72-Jährige Ingrid Winkel in einer Demenz-WG lebt und einen geordneten Tagesablauf hat, haben Mutter und Tochter wieder mehr Zeit für die schönen Momente.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Wohngemeinschaft für Demenzkranke: „Ich will nicht ins Heim“

Wenn ein Elternteil nicht mehr allein leben kann, stehen die Kinder vor einer schwierigen Entscheidung. Ein Umzug in eine Demenz-WG wie der Heidehof in Pankow kann eine Lösung sein.

„Was sollen wir hier?" Ablehnend, bockig, ja geradezu stur reagiert Ingrid Winkel, als sie an einem Februarnachmittag zum ersten Mal in ihrer neuen Wohnung steht. „Dabei hatte ich mir doch so viel Mühe gegeben“, sagt ihre Tochter Claudia Haase, der man noch heute die Enttäuschung anhört. Die goldene Uhr hatte sie neben dem schmalen Kerzenleuchter auf dem massiven Holzschrank platziert, dahinter die Kinderfotos. Gleich über dem Bett mit dem sonnengelben Bezug hängen Ingrid Winkels geliebte Landschaftsbilder, links davon der Waschschrank mit Seife und Parfum. So wie es die 72-Jährige aus ihrer alten Wohnung gewöhnt war. „Aber Mutti wollte das Zimmer einfach nicht akzeptieren.“

Gerade mal zwei Monate später sitzt Ingrid Winkel gutgelaunt in ihrem flauschigen Fernsehsessel, das aufgeschlagene Fotoalbum vor ihr. „Da ist sie, die Claudia", sagt sie, lächelt und schaut mit verträumtem Blick zu ihrer Tochter rüber. „Die sind auch von Claudia", schiebt sie hinterher und zeigt auf ihre Hausschuhe. „Ach Mutti“, erwidert diese – so wie man nur mit jemandem spricht, den man schon sehr, sehr lange kennt.

Als die Mutter den Müll ins Gefrierfach steckt, bekommt sie Angst

Die Claudia. Die Mutti. Eine enge Mutter-Tochter-Beziehung verbindet diese beiden Frauen. In den vergangenen Monaten aber wurde sie immer wieder geprüft. Und die 47-Jährige musste sich fragen: Kennt sie ihre Mutter wirklich? Denn Ingrid Winkel verändert sich: Die alte Dame leidet an Demenz. 2012 stellen die Ärzte die Krankheit fest, die sich schleichend vollzieht. Zunächst bleibt sie in ihrer Wohnung an der Leipziger Straße – wie die vergangenen 30 Jahre auch. Doch dann häufen sich die Warnzeichen: Erst sperrt sich ihre Mutter aus, dann vergisst sie ihre Hausnummer, wie man sich mit Messer und Butter ein Brot macht und schließlich sogar zu schlafen. Spätestens als Ingrid Winkel ihren Hausmüll ins Gefrierfach steckt, weiß Claudia Haase: Ihre Mutter kann nicht länger alleine wohnen.

Holt man sich eine Pflegekraft ins Haus? Zieht das Elternteil mit zur Familie? Oder geht Mutter oder Vater doch ins Pflegheim? Es sind Fragen, mit denen sich jeder beschäftigen muss, dessen Eltern irgendwann gebrechlich, vergesslich und krank werden. Unangenehme, quälende, bedrückende Fragen sind das. So viel Verantwortung, so viel Last. Wie viel Pflege kann die Familie selbst übernehmen, wo geht sie an ihre Grenzen?

Was sonst eher bei Studenten bekannt und beliebt ist, hat Claudia Haase nach langem Grübeln und Recherchieren auch für ihre Mutter entdeckt: eine Wohngemeinschaft. Und zwar ausschließlich für Demenzpatienten. In Pankow lebt Ingrid Winkel in einer WG mit sechs anderen Frauen. In dem hellen Wohnraum mit der Sofalandschaft in der Ecke sitzen die Frauen zusammen am Esstisch, spielen „Mensch-ärgere-dich-nicht“, schälen die Kartoffeln fürs Mittagessen oder blicken hinaus auf den Bürgerpark. Was Studenten an Wohngemeinschaften so lieben, wird auch hier geschätzt: sich gemeinsam unterhalten, amüsieren, nicht allein sein. Die Suche nach der richtigen Wohnform beginnt für Claudia Haase mit einem einzigen Satz: „Ich will nicht in ein Heim.“ Lange bevor Ingrid Winkel an Demenz erkrankt, äußert sie diesen Wunsch. Ihre Tochter ist da ganz bei ihr: „Da geht es nur darum, jemandem abzuparken. Das hat sie nicht verdient. Da geht sie unter.“ Sowohl Claudia Haase als auch ihre Mutter haben schlechte Erfahrungen mit dem Pflegesystem gemacht. Beide arbeiteten lange als Krankenschwestern. Haases Kritik: zu wenig Personal für zu viele Bewohner. Zu wenig Aufmerksamkeit und Fürsorge für den Einzelnen.

Wie aber soll es dann weitergehen für ihre Mutter? Claudia Haase zögert lange, schiebt eine Entscheidung immer wieder hinaus – es mangelt an Alternativen. Anfangs kommt der Pflegedienst drei Mal am Tag für wenige Minuten ins Haus. „Da ging es ja bloß um die Tablettengabe. Ich habe alles andere gemacht: einkaufen, Wäsche waschen.“ Die Einstellung ihrer Mutter macht es der Tochter nicht leichter. „Funktioniert doch alles“, sagt diese. Für Haase aber funktioniert nichts mehr.

Nichts will der 72-Jährigen gefallen, dann trifft sie auf die Mitbewohnerin

Sie lebt fortan mit einer großen Unsicherheit. Warum geht ihre Mutter nicht ans Telefon, wenn sie anruft? Ist ihr etwas passiert? Hat sie sich wieder ausgeschlossen? „Auch bei der Arbeit habe ich mir ständig Sorgen gemacht“, sagt Haase, die im Außendienst tätig ist und medizinische Geräte verkauft. Jeden Abend fährt sie zu ihrer Mutter. Um den Haushalt zu machen. Um zu gucken, ob es ihr gut geht. „Da bleibt doch das eigene Leben auf der Strecke“, erinnert sie sich. Claudia Haase möchte nicht falsch verstanden werden: Sie kümmere sich gerne um ihre Mutter, sagt sie. „Aber ich habe auch noch das Recht auf eigenes Leben.“ Deshalb sei es für sie auch nicht in Frage gekommen, bei ihrer Mutter einzuziehen.

Sie sieht sich im Internet nach geeigneten Pflegeformen um, trifft aber immer wieder auf klassische Altenheime. Erst ein Sozialarbeiter macht sie auf die Demenz-WG aufmerksam. Beim ersten Treffer ist sie gleich euphorisch. Die Einrichtung ist in der Nähe ihres Wohnorts, dazu ist noch ein Platz frei. Dann aber genügt die Pflegestufe ihrer Mutter nicht. Die WG will mindestens Pflegestufe 2 oder 3, doch ihre Mutter bekommt nur 1 bewilligt. „Mit einer höheren Pflegestufe können die Betreiber mehr Geld einnehmen. Da steckt ein richtiges Geschäft dahinter. Abzocke“, findet sie und man merkt ihrer Stimme die Empörung an. Hier in Pankow hat sie schließlich mehr Glück: In der Frauen-Demenz-WG ist auch ein Platz frei. Zwei Pfleger kommen hier auf sechs Bewohner. Ein guter Betreuungsschlüssel, findet sie. „Und das Personal ist für Demenzpatienten geschult.“ Claudia Haase ist sofort begeistert. Schon im Dezember dürfen sie beim Adventsessen dabei sein. Ingrid Winkel aber ist trotzig. Die Menschen, der Kuchen, das Haus – nichts will ihr gefallen. Der Tag, an dem Claudia Haase ihrer Mutter eröffnet, umziehen zu müssen, ist für beide Frauen ein sehr düsterer. Sie streiten. Ingrid Winkel will ihre Wohnung nicht verlassen. „Sie wurde richtig bösartig.“

Die ersten Stunden in ihrem neuen Zuhause sind deshalb keine Freude. Ingrid Winkel lehnt alles ab. Bis sie zum ersten Mal mit ihrer neuen Mitbewohnerin plaudert. „Sehr lieb“, sagt sie und nickt wie zur Bestätigung. Bis sie zum ersten Mal am Tanzcafé teilnimmt. „So geht das!“, sagt sie entschlossen, hebt das Bein in die Höhe und lacht. Bis sie zum ersten Mal das Grün vor ihrer Tür sieht. „Wir gehen gleich wieder zum Friedhof, ja?“, sagt sie dann und schaut ihrer Tochter erwartungsvoll in die Augen.

Und auch Claudia Haase geht es besser seit dem Umzug ihrer Mutter, die nun endlich einen geregelten Tagesablauf hat. Erleichterung spürt sie. „Ich kann mich zurücknehmen, muss nicht ständig daran denken: Ist mit Mutti alles gut?“ Statt sich um den Haushalt ihrer Mutter zu kümmern, kann sie hier mehr Zeit mit ihr verbringen. Länger habe sie es nicht hinauszögern dürfen, sagt Claudia Haase heute. „Vielleicht hätte ich sogar schon eher aktiv werden sollen.“ Anderen Betroffenen rät sie, sich frühzeitig nach Pflegeformen umzusehen und nicht zu lange zu warten. „Wir sind hier angekommen.“ Ein „wir“ statt „sie" rutscht ihr dabei heraus und sie muss lachen: „Ja, es stimmt doch: Wir sind eine große Familie.“

Julia Bernewasser

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