zum Hauptinhalt

Berlin: Wilfried Menghin (Geb.1942)

Normannen, Wikinger oder Waräger, für ihn waren sie alle Europäer

Alle Entdeckungen sind gemacht. Alle Kontinente sind erobert, die Länder kartografiert und die Lebensweisen ihrer Bewohner bis ins Detail erforscht. Wer heute nach dem Unbekannten sucht, muss ins All aufbrechen.

„Woas a Schmarrn!“ Wilfried Menghin hätte sich mit seiner ganzen bajuwarischen Stimmfülle und raumgreifenden Erscheinung gegen solchen Kleinmut gestemmt. Unaufhörlich hat er Entdeckungen gemacht, die unsere Sicht auf die Menschheit und ihre Geschichte prägen. Er suchte nicht nach dem, was wir noch nicht wissen, sondern nach dem, was wir vergessen haben. Als Archäologe, Völkerkundler und Professor für Vor- und Frühgeschichte betreffen seine Entdeckungen Zeiten, die Jahrhunderte und Jahrtausende zurückliegen.

Im Wendejahr 1990 kehrte der gebürtige Münchener seinem geliebten Süddeutschland und dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg den Rücken und zog nach Berlin. Hier sollte er Landesarchäologe und Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte werden. Und er interessierte sich auch sehr für Stadt und Land an der Spree, wo sich frühe europäische Kulturen auf ihren Wanderungen immer wieder begegneten und mischten.

„Germanen, Hunnen und Awaren“, „Menschen, Zeiten, Räume“ und „Merowinger – Europa ohne Grenzen“, viele Titel seiner Ausstellungen deuten darauf hin, dass für Wilfried Menghin die Region zwischen Atlantik und Ural schon immer ein gemeinsamer Kulturraum war. Ob Normannen, Wikinger oder Waräger, für ihn waren sie alle Europäer.

Eine seiner bedeutendsten Entdeckungen, deren Entschlüsselung ihn fast 20 Jahre fesselte, kündigte sich 1996 kurz vor Weihnachten mit einem Telefonanruf an. Ein Kunsthändler aus Vaduz in Liechtenstein bot dem Berliner Museumsdirektor mit raunender Stimme einen „Goldhut“ an, aus einer „anonymen Privatsammlung“ natürlich. Menghin ahnte sofort, worum es sich handelte. Nur drei solcher hohen und schmalen Kopfbedeckungen hatte man bis dahin gefunden. Wahrscheinlich wurden sie vor 3000 Jahren von Priestern bei kultischen Festen getragen. Die Fotos zeigten ein mit Zeichnungen, Bildern und Symbolen besonders reich verziertes, gut erhaltenes Stück. Eine Million Mark verlangte der Liechtensteiner. Und das für ein Objekt ohne Herkunftsnachweis, das möglicherweise aus einer illegalen Raubgrabung stammte. Für ein öffentliches Museum war so ein Kauf eigentlich tabu. Doch Wilfried Menghin sah in dem Hut weit mehr als ein prächtiges goldenes Schmuckstück, er vermutete in den Verzierungen eine Botschaft aus vorchristlicher Zeit, die es zu entschlüsseln galt. Mit all seinem Charme und der Kraft seines Dickschädels gelang es, die Gremien der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zum Kauf zu bewegen.

Menghin stürzte sich in die Forschung und fand in jahrelanger Kleinarbeit heraus, dass es sich bei den Symbolen um ein komplexes Kalendarium von Sonnen- und Mondzyklen handeln musste, ein erstaunlich fortgeschrittenes astronomisches Wissen für diese Zeit, aber von größter Wichtigkeit für die ersten Bauern und Viehzüchter. Es gab Zweifel an dieser Deutung, aber Menghin, mittlerweile von manchen „der Mann mit dem Goldhut“ genannt, wurde nicht müde, seine Entdeckungen zu erklären. So nutzte er kurz vor seiner Pensionierung auf einer Dienstreise die fünfstündige Bahnfahrt zwischen Moskau und St. Petersburg, um seinem Nachfolger alle 20 Etagen des Hutes mit ihrem „lunisolaren System“ einzeln zu beschreiben. Heute gehört der „Berliner Goldhut“ zu den bedeutendsten Ausstellungsstücken im Neuen Museum auf der Museumsinsel.

Als Wilfried Menghin 2008 sein Amt abgab, hatte er mit großem fachlichen und menschlichen Geschick nicht nur die Sammlungen aus dem Ost- und Westteil der Stadt zusammengeführt, sondern auch die Menschen, die dort arbeiteten. Die Konzeption des neuen Hauses war nicht mehr seine Sache, aber es soll ein anerkennendes „Des passt scho“ zu hören gewesen sein.

Zum Pensionär taugte Menghin nicht so recht, obwohl Familienmensch und begeisterter Großvater, zog es ihn immer wieder in die Fachwelt. Als Sonderbeauftragter des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz reiste er oft nach Russland, um dort über die nach dem Krieg aus Berlin verlagerten Bestände des Museums für Vor- und Frühgeschichte zu verhandeln, etwa um den Schatz des Priamos. War er in seiner aktiven Zeit bei den russischen Kollegen wegen seiner direkten Art noch als „Grosny Menghin“, der schreckliche Menghin, der immer alles haben will, gefürchtet, gelang es ihm jetzt, gemeinsame Ausstellungen zu organisieren und eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung zu erzeugen. Eine Krönung seiner Arbeit war im Sommer die große Ausstellung „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“ in der Eremitage in St. Petersburg. Zwei Tage vor der Eröffnung starb er. Sebastian Rattunde

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false