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Berlin: Wilfried Bennstein (Geb. 1943)

Restauratoren: die einzigen Sachverständigen, weil sie die Bilder berühren dürfen.

Am 13. April 1982 betrat ein 29-jähriger Student der Tiermedizin die Neue Nationalgalerie in West-Berlin, griff sich eine Stange der Absperrung und schlug damit dreimal auf ein Gemälde ein, das erst wenige Monate zuvor angekauft worden war: Barnett Newmans „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“. Vier Jahre später attackierte ein Attentäter im Amsterdamer Stedelijk Museum das dritte Bild dieser Serie, indem er mit einem Teppichmesser die Leinwand zerschlitzte. Der Angreifer in Berlin gab später zu Protokoll: „Ich wollte es gar nicht unbedingt kaputtmachen. Ich hatte nur für so einen Moment das Gefühl: Ich muss mich regelrecht dagegen wehren. Dass da irgendwie irgendwelche Gespenster drin hausen.“

In Berlin nahm sich Wilfried Bennstein, der Chefrestaurator der Nationalgalerie, des zerstörten Bildes an. Drei Meter gelb, drei Meter rot, in der Mitte ein schulterbreiter blauer Streifen. Er besuchte die Witwe des Malers, besorgte sich Reste der Originalfarbe und der Originalleinwand, schloss sich mit dem Bild ein in seinem Atelier, studierte monatelang den Farbauftrag, die Textur, wägte, wartete, ließ Zeit verstreichen. Was er letztlich tat, blieb sein Geheimnis. Im Januar 1985 kehrte das Bild zurück ins Museum, nicht unversehrt, aber ohne entstellende Spuren der Verletzung. Das Bild in Amsterdam hingegen, für fast eine halbe Million Dollar restauriert, gilt als verdorben. Es hat durch einen rabiaten neuen Farbaufstrich seine Strahlkraft verloren.

Wilfried wurde im Krieg geboren, daher der Name: Will Frieden. Die Eltern wünschten sich einen Sohn, der mal Arzt wird, ein Mann, der andere heilt. Die Mutter betrieb einen Obst- und Gemüseladen, der Vater arbeitete bei den Verkehrsbetrieben. Benni, wie ihn alle riefen, war pfiffig. Die Schule war ihm nicht genug, nebenher absolvierte er eine Ausbildung als Vergolder und Fassmaler, anschließend ging er zu einem Rahmenbauer in die Lehre. Er wusste sehr früh, was er wollte. Heiraten, Familie, künstlerisch arbeiten. Während andere sich noch im Studium plagten, war er schon Vater von drei Kindern.

Er fand schnell eine Anstellung in der Restauratorenwerkstatt der Dahlemer Museen, und er fand viele Freunde unter den Berliner Künstlern und Sammlern, denn sein Talent sprach sich rasch herum. Er hatte ein Gespür für das Materielle und ein Auge für das Geheime, das Verlorene, Übersehene. In einer unbeachteten Ecke in den Gewölben der Spandauer Zitadelle fand er vier verstaubte Bronzetafeln, Teile des Reliefs über den „Deutschen Krieg“, die eigentlich an den Sockel der Siegessäule gehörten, wo sie seit der Restaurierung auch wieder zu sehen sind. Er ging über den Flohmarkt, stöberte in den Kisten der Kunsthändler und fand für wenige D-Mark ein Bild, das kurz darauf ein internationales Auktionshaus bereitwillig zur Versteigerung annahm. Verstreutes, Verräumtes. Er sichtete für die Evangelische Kirche deren Kunstschätze und fand ein selten schönes Gnadenstuhl-Bild, das fortan im Amtszimmer des Bischofs hing.

Aber häufig genug ging es in seiner Restauratorentätigkeit auch um ganz Praktisches. Wie bringe ich die großformatigen Kissen-Bilder Gotthard Graubners durch die keineswegs kleinen Türen des Schlosses Bellevue? Wie transportiere ich Bilder, geschützt vor Stößen und Temperaturwechseln, sicher über weite Strecken? „Eigentlich bin ich der wahre Daniel Düsentrieb“, scherzte er. Ein Erfolg seiner Tüftelei: Ein Klimasafe, in dem die Kunstwerke unbeschadet auch weite Flüge überstehen. Bilder gehen auf Reisen, Bilder verunglücken auf Reisen. Bilder leiden unter der Zeit und unter der Vergänglichkeit der Materialien. „Ich dachte, ich werd’ verrückt“, schimpfte Sylvester Stallone in einem Interview über seine Kunstsammlung. Bei einem Bild von Anselm Kiefer, Ankaufspreis 1,7 Millionen Euro, war Stroh heruntergerieselt, „jeden Tag ein Halm“. Also habe er selbst zum Klebestift gegriffen. Ist das schon Verfälschung?

„Ein einziger unbedachter Fingerabdruck kann ein Kunstwerk vollständig zerstören“, konstatiert der derzeit bekannteste Restaurator und Kunstflüsterer Christian Scheidemann. Aber trotz aller Verbote, Kunst verführt zum Berühren. Gute Kunst ist nicht selten durch viele Hände gegangen, eben weil sie so begehrt ist. Die größte Vorsicht kann keine Gebrauchsspuren verhindern. Wenn auf Bildern von Andy Warhol Fingerabdrücke zu finden sind, muss man sie entfernen? Auch dann, wenn sie von Warhols Kollegen Jasper Johns und Robert Rauschenberg stammen? Wer entscheidet das eigentlich? Der Sammler, der Kurator, der Künstler selbst? Gerade in den amerikanischen Museen sah Wilfried Bennstein immer wieder Bilder, die er als leblos empfand, versiegelte Gesichter, standardisierte Korrekturen wie in der dortigen Schönheitschirurgie üblich, „totrestauriert“.

Es geht bei der Sicherung der Bilder nicht nur um ästhetische Glaubensfragen, es geht auch um viel Geld. Ist das teuerste Gemälde der Welt „Salvator Mundi“, einst in sehr beschädigtem Zustand aufgefunden, wirklich noch ein Original oder eher eine Schöpfung der Restauratoren im Stile Leonardos? Original oder Fälschung? Über Leonardo schwieg sich Wilfried Bennstein aus, bei Rembrandts „Mann mit dem Goldhelm“ hingegen war er sich sicher. Im Gegensatz zu der Neubewertung der Kunsthistoriker hielt er das Bild für echt. Den „Kunsthysterikern“, wie er sie nannte, misstraute er ohnehin bis auf wenige Ausnahmen, nicht zuletzt, weil ihnen der taktile Zugang zu den Gemälden fehlte. Sie begreifen nicht, was sie sehen. Für ihn waren die Restauratoren die eigentlichen Sachverständigen, weil sie den intimsten Umgang mit den Werken haben.

J. Paul Getty sah das ähnlich. Sein Sekretär lud Wilfried Bennstein im Namen des Kunstsammlers und Milliardärs nach New York ein, um ein Bild zu taxieren. „Herr Getty betritt gleich den Raum. Er wird ihnen nur eine einzige Frage stellen. Sie antworten mit Ja oder mit Nein. Mehr nicht.“ Getty trat ein, der Vorhang vor dem Bild wurde gehoben. „Ist es echt?“, fragte Getty. Wilfried Bennstein ließ sich Zeit. „Ja“, antwortete er schließlich. Um welches Gemälde es sich handelte, durfte er nie preisgeben.

Bilder sind Aktien, es wird Handel mit ihnen getrieben, sie werden wie Goldbarren in Tresoren gehortet. Wilfried Bennstein hasste den Transfer von Kunst in Kommerz. Für ihn musste sie gezeigt werden, denn wahrhaftige Bilder bewegen etwas in der Welt. Sie verdienen die Freiheit der Betrachtung. Er selbst konnte unzählige Stunden mit einem Bild verbringen. Im Mundwinkel oft eine Kippe, „aber nie auf Lunge“, beteuerte er, und nie nur zum Vergnügen. Denn mit Zigarrenasche lassen sich wunderbar verschmutzte Oberflächen reinigen. Wie viel Zeit verbrachte er allein mit Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“. An ihm sah und studierte er, was ihm selbst immer zum Künstler gefehlt hatte. „Wenn ein Maler Luft malen kann … das ist es!“

Die Wolken, der Wind, die Wellen. Das waren auch im wirklichen Leben Bennis Elemente. Er war ein Getriebener. Wie alle Segler. Aber von einer vernünftigen Leidenschaft getrieben, denn was kann schöner sein und klüger, als sich von den Winden über die Wasser schiffen zu lassen. Mit an Bord war Ulla, die er nach der Scheidung von seiner ersten Frau kennengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Beim Segeln war Benni die Ruhe selbst. Er und sein Boot waren eins. Er fühlte es, wenn der Wind erwachte, und er hatte die Geduld, zu warten, wenn er in eine Flaute geriet. In einer Regatta braucht es viel Geduld. Der Vorauseilende ist selten der Sieger. „Getutet wird im Ziel.“ Sein Boot trug den Namen „Eclair“, Starboot-Klasse, ein mächtiges Großsegel an einem spindeldürren Mast auf einem vergleichsweise winzigen Rumpf, nicht einfach zu segeln. Sonst wäre es ihm auch langweilig geworden.

Und ausgerechnet ihm, der so ruhig mit allen Dingen umging, der so sorgsam alles vorhersah, explodierte eine Gaskartusche in den Händen. Sieben Jahre ist es her. Sie waren im Urlaub in Griechenland. Das Gas strömte flammend aus und setzte die Küche in Brand. Er kam mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus, wurde nach Deutschland in eine Spezialklinik geflogen und in ein künstliches Koma versetzt. Am Tag der Silberhochzeit erwachte er aus dem Schlaf. Ulla und sein ältester Sohn standen an seinem Bett. Die betreuende Schwester fragte ihn: „Können Sie mir denn sagen, was für ein Tag heute ist?“ – „Ja“, flüsterte er, „gegen eine geringe Gebühr.“

Er hat sich ins Leben zurückgekämpft und seinen Humor bewahrt. Aber der Körper war versehrt. Umso mehr vertraute er auf das Zusammensein mit seiner Frau. Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Aber er war ja ein Tüftler. Er wusste auf fast alles eine Antwort. Wenn wieder einmal die Tränen kamen, beim Zwiebelschneiden, dann setzte er Ulla eine Taucherbrille auf. Und weil die Angst vor dem letzten Abschied immer wieder den Atem nahm, schrieb er ihr vor jedem Verlassen der Wohnung ein paar zärtliche Zeilen, und noch in der Woche vor seinem Tod machte er ihr eine Liebeserklärung in der Hoffnung, es würde nicht die letzte sein.

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