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Menschen blicken auf der Müggelsee.

© Kira Hofmann/dpa-Zentralbild/ZB

Wie wir den Lockdown erleben: Zwischen Frust, Freiheitsdrang und Unverständnis über Regel-Muffel

Auf Corona-Regeln pochen oder froh sein über letzte Freiheiten? Tagesspiegel-Autorinnen und ein Vater schildern ihre Sicht.

Alleinerziehend
Meine fünfjährige Tochter hat keine Geschwister, mit denen sie spielen kann. Die Kita ist bis Ende Januar geschlossen. Als getrennte Eltern teilen ich, Mathias Richel, und die Mutter der Kleinen die Betreuungszeit gleichermaßen auf.

In der Zeit müssen wir natürlich weiter zuhause arbeiten. Mir tut sie unglaublich leid. Währenddessen bastelt oder malt meine Tochter, lernt gerade schreiben und lesen. All das funktioniert alleine weniger gut. Und natürlich guckt sie dann auch noch viel mehr Netflix als sonst üblich.

Das geht jetzt schon fast ein Jahr so. Daher versuchen wir, viel rauszugehen. Der Schnee der letzten Tage war toll dafür, aber natürlich will auch das Skateboard, das der Weihnachtsmann gebracht hat, ausgiebig getestet werden.

In den Pankower Parks ist das kein Problem. Die Menschen halten angemessen Abstand. Viel schwieriger finde ich, dass ich die ganze Zeit meine Tochter an diesen Abstand erinnern muss. Ganz anders als sonst, wo Kinder einfach auf einander zugehen und miteinander spielen.

Das ist schon beklemmend. Kinder müssen mit Kindern spielen. Und wir als Eltern sind nur ein unzureichender Ersatz dafür, egal wie viel Mühe wir uns dabei geben. Für mich persönlich ist diese Tatsache das Belastende an Corona. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich sehe, wie sie auf so Vieles verzichten muss - mitten in einer so wichtigen Entwicklungsphase. Wir können nur hoffen, dass das langfristig trotzdem gut an ihr vorbei geht. Protokoll: Corinna Cerruti

Mathias Richel ist alleinerziehender Vater.
Mathias Richel ist alleinerziehender Vater.

© Stephan Pramme

Reiselust und Reisefrust
Das Jahr war schrecklich, Erholung nötig, meine Reisesehnsucht groß. Ein Corona-Schlupfloch gab es: die Kanarischen Inseln, zu dem Zeitpunkt im Dezember kein Risikogebiet. Also schnell gebucht, obwohl die Bundeskanzlerin bereits mahnte, man solle besser zu Hause bleiben.

War die Reise ein Risiko? Eher nein, die Inzidenzen auf Lanzarote waren bedeutend niedriger als in Berlin, der Hinflug konnte nur mit negativem Coronatest angetreten werden, auf der Vulkaninsel selber hatten wir kaum Kontakt mit anderen Menschen.

War die Reise es wert? Auf jeden Fall, Wind, Sonne, Meer haben gut getan und einem ein bisschen Normalität jenseits von Corona gegeben, auch wenn auf der Insel wirklich überall in den Orten Masken getragen wurden.

Würde ich die Reise wiederholen? Nein! Selbst Ziele, die nicht als Risikogebiet gelten, kämen derzeit nicht mehr in Frage. Ich würde zu Hause bleiben. Die Lage ist - obwohl die Impfungen begonnen haben - dramatischer; die Zahlen sind trotz des Lockdowns nicht wesentlich gesunken, dazu kommt die neue, ansteckendere Mutante des Virus. Nicht alles, was man dürfte, sollte man auch tun. Sigrid Kneist

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Verwandt mit Risikopatient
Der Mann kann seit Jahrzehnten nur den Kopf bewegen, er hat im Sommer seine Frau verloren, die ihn fast vierzig Jahre Zuhause pflegte, und am 28. Dezember kam im Heim auch für ihn die Diagnose: Corona. Der Horror.

Der Mann ist mein Vater, er hat Multiple Sklerose, seit ich 18 Jahre alt bin, ich bin jetzt 56. Ich habe sogar Duschzeug desinfiziert, den Aufzug mit dem Ellenbogen bedient, beim Lockdown im März ihm auf dem Balkon zugewunken.

Jetzt kann ich ihn nicht sprechen, weil ihm wegen Corona das Telefon nicht ans Ohr gehalten werden darf. Die Pflegerinnen sagen, mein Vater sagt, er habe kein Corona und will raus aus dem Bett in den Rollstuhl. Dass sie uns Töchtern gar nichts hätten verraten sollen.

Ich selbst lebe auch wegen ihm fast immer regelkonform, Menschen ohne Maske spreche ich oft an, diese Corona-Mutation macht mir Sorge. Eine Pflegerin sagte, mein Vater habe gerade beim Gewaschen werden das Foto seiner Frau angeguckt und gesagt: „Ursel, Du hast ein gutes Heim ausgesucht, ich bin gut versorgt, es geht mir gut.“

Es drückt seine Stimmung, dass er abgeschottet ist. Ich ließ ihm ausrichten: Du bist ein Kämpfer. Schon nach dem Tod meiner Mutter sagte er, 82, „Du brauchst nicht zu denken, dass ich jetzt abtrete.“ Ich hoffe jeden Tag, dass er symptomfrei bleibt und bald geimpft werden kann. Dass er wieder „Lungentherapie“ will, draußen eine rauchen. Nur zu gern. Annette Kögel

Der Alexanderplatz ist verlassen, die Geschäfte sind geschlossen.
Der Alexanderplatz ist verlassen, die Geschäfte sind geschlossen.

© John MACDOUGALL / AFP

Drang nach Draußen
Als bekannt wurde, dass es einen Bewegungsradius für Gebiete mit einer Inzidenz von mehr als 200 geben soll, warf ich als erstes einen Blick auf die Karte. Waren Waldgebiete am Stadtrand noch erreichbar? Die ganze Stadt gilt als Wohnort, also ja. Erleichterung.

Der Gedanke, nicht mehr ins Grüne fahren zu dürfen, sorgt für Beklemmung. Zum Highlight jeder Woche gehört der Ausflug in den nächstgrößeren Park oder sogar in den Wald - jetzt maximal zu dritt, wahrscheinlich eher zu zweit. Was sollen wir auch groß anderes machen?

Nach fast einem Jahr der Entbehrungen ist uns wenig geblieben, vor allem der jungen Generation. Mein Alltag bewegt sich nicht mehr zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Bar und Museum, sondern zwischen Bett, Schreibtisch und Kühlschrank. Mein Radius hat sich damit ohnehin verringert.

Wir spielen den Lockdown aus dem Frühjahr wieder von vorne, nur diesmal im Dunkeln mit Wolkendecke. Dabei ist es egal, wie wir arbeiten, ob wir wegen Kurzarbeit viel freie Zeit füllen müssen oder in Überstunden versinken. Uns allen tut es gut, aus unserem Aquarium herauszukommen – so nenne ich meine Wohnung liebevoll – und nicht nur unseren Kiez zu sehen, sondern die Umgebung zu wechseln, Erde unter den Schuhen zu spüren.

Natürlich ist ein Besuch im Park kein Freibrief, um mit zehn weiteren Personen Schulter an Schulter zu quatschen. Nur sehe ich wenige solcher Gruppen. Selbst als am vergangenen Wochenende zahlreiche Berlinerinnen und Berliner nach draußen strömten, war zwar viel los, aber zumindest im Treptower Park nicht zu viel. Rausgehen ist nicht gleichbedeutend damit, Kontakt zu suchen. Es ist wichtig, dass wir rauskommen, für die mentale Gesundheit, für die Disziplin und das Durchhaltevermögen. Corinna Cerruti

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Auf die Regeln gepocht
Es ist ein schwer zu ertragender Widerspruch: Einerseits leiden wir doch alle unter den herrschenden Beschränkungen. Erlaubt ist fast nichts, was Spaß macht: keine Restaurants, keine Partys, keine Clubs, keine Kinos, kein Theater, keine Konzerte, kein Shopping…

Anstatt nun an einem Strang zu ziehen, um diesen Zustand möglichst rasch zu überwinden, verhalten sich zu viele Mitbürger so, als gäbe es kein Corona. Obwohl auf den Böden der Supermärkte überall die vorgegebenen Abstände eingezeichnet sind, sehen sich etliche Leute offenbar als Ausnahmepersönlichkeiten und halten sich nicht daran.

Wenn ich sie mal darauf anspreche, setzen sie eine feindselige „Hab’ dich nicht so“-Miene auf oder reagieren mit unfreundlichen Bemerkungen. Dabei fängt die große Erlösung im Kleinen an. Nur, wenn wirklich jeder sich an die Regeln hält, lässt sich das Problem in den Griff bekommen.

Und warum man nun unbedingt gerade jetzt im überfüllten Park spazieren gehen oder gar Skilaufen muss, leuchtet mir auch nicht ein. Wann wird es je wieder die Chance geben, mit Entdeckeraugen zwischen nahegelegenen Häuserzeilen umher zu wandern? Ist es doch, da die Straßen gerade so leer sind, auch erholsam und hilft zudem dabei, diese Zeit möglichst bald vergessen zu können. Elisabeth Binder

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