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Lena als Zweijährige mit ihren Eltern im Jahr 2011.

© Ingo Bach

Wie ein Mädchen Leukämie bekämpft: Eine starke Familie

Mit gerade mal zwei Jahren wurde bei Lena Leukämie diagnostiziert. Für ihre Eltern und sie begann eine schwere Zeit. Eine Reportage mit Happy End zum Weltkrebstag an diesem Montag

Die langen braunen Haare reichen ihr über die Schulter bis tief den Rücken hinab. Sie glänzen im Licht. Einzelne Strähnen strahlen hellblond, fast weiß. Eine modisch große, schwarz umrandete Brille sitzt auf der Nase. Ihr Mund lächelt, doch ihre Augen hinter den Brillengläsern schauen ernst. Kindlich unbeschwert sollte Lena sein. Sie ist ja erst zehn. Doch in dieser Zeit hat sie Erfahrungen gesammelt, die andere in einem ganzen Leben nicht machen müssen. Die Erinnerungen an das Geschehene wiegen schwer, auch wenn Lena sich selbst nicht mehr an die Details von damals erinnern kann. Denn als Familie Ziehm den Krebs das erste Mal kennenlernte, war Lena gerade mal zwei Jahre alt. Als der Krebs das zweite Mal in den Alltag einbrach und Lenas Mutter traf, war sie vier.
Die Zehnjährige ist im Gespräch zurückhaltend, fast schüchtern. „Die Unbeschwertheit, die Sorglosigkeit ihrer frühen Kindheit ist noch immer nicht zurück“, sagt ihre Mutter Nicole Ziehm. „Ich habe vor vielem Angst“, sagt Lena leise. Vor dem Fliegen, vor Gewitter, vor unbekannten Situationen. Manchmal weint sie. Die Spuren der Krankheit und der Zeit danach auf ihrer Seele sind tief. Aber auch das hat der Krebs bewirkt: Lena besitzt ein hohes Maß an Selbstreflektion. Und die dreiköpfige Familie – Mutter Nicole, Vater Marco und Lena – hat der Krebs zusammengeschweißt. Eine starke, verschworene Gemeinschaft.
Rückblende: Dezember 2010, Universitätsklinikum Magdeburg. „Ihre Tochter hat Leukämie“, sagen die Ärzte. Sie sagen es vorsichtig, sagen, wie leid ihnen das tue. Sie hätten auch weniger mitfühlend sein können, ohne dass die Mutter das mitbekommen hätte. Sie hörte nur: Krebs. „Ich war danach drei Tage lang wie auf Autopilot“, sagt Nicole. „Ich kann mich eigentlich an nichts mehr erinnern, was in diesen drei Tagen passiert ist.“ Außer an ein Gefühl: Angst um das Kind.

Lena litt sehr unter der Behandlung

Und es sollte noch eine Emotion hinzukommen. Mitleiden mit dem Kind. Denn Lena litt sehr unter der Behandlung, hat sich anfangs heftig gewehrt. Sie wollte die Spritzen nicht, wollte nicht, dass man ihr Knochenmarkproben entnahm und dass es ihr immer so schlecht ging, wenn die Chemo zu wirken begann. „Sie hat geschrien, wenn ein Mensch im weißen Kittel auftauchte“, erinnert sich die Mutter. Mitten in der Therapie wurde es noch schlimmer. Staphylokokken hatten sich in Lenas geschwächtem Organismus eingenistet. Sie musste ins künstliche Koma versetzt werden, lag eine Woche auf der Intensivstation. Als sie wieder erwachte, war ihr Widerstand gegen die Therapie erlahmt. Ohne Gegenwehr ließ Lena die Behandlung jetzt zu. So, als hätte sie verstanden, dass ihr Leben davon abhängt. Das erste Mal trafen wir Lena im Sommer 2011, in der Kindernachsorgeklinik Bernau, wo sie mit ihren Eltern in der Reha war. Zu der Zeit liebte sie Memory, deckte gerade im Spielzimmer der Klinik die Kartenpaare eines nach dem anderen auf. Richtig gut war sie. Solche Spiele brauchen nicht viel Platz, lassen sich gut in der kleinen Höhle spielen, die Lena aus dunkelblauen Schaumstoffmatratzen gebaut hatte. Da passte nur noch die Physiotherapeutin mit hinein, die allein mit ihr spielte. Nicht wegen des fehlenden Platzes, sondern weil die Gefahr, dass sich Lena bei anderen Kindern mit Keimen ansteckt, elf Monate nach der Diagnose noch groß ist. Man konnte es ihr ansehen, dass das halbe Jahr Chemotherapie noch nicht lange zurücklag: Das ausgefallene und gerade nachwachsende Haar war kurz und fein wie Flaum. Lenas Gesicht wirkte erwachsener, als es bei einer Dreijährigen zu erwarten wäre. Wahrscheinlich nicht überraschend, bei dem, was das Kind erlebt hat. Wechseln an Krebs erkrankte Kinder aus dem Krankenhaus in die Reha nach Bernau, sind sie gestresst, teils schwer traumatisiert. „Zu uns kommen ernst blickende Siebenjährige, die genau wissen, was ein Karzinom ist, was Fünf-Jahres- Überlebensrate bedeutet und wie es sich anfühlt, auf der Intensivstation zu liegen“, sagt Ines Konzag, Chefärztin der Kindernachsorgeklinik. Oft haben die Kleinen die Lebenszuversicht, das Urvertrauen, dass alles wieder gut wird, verloren.

Mit den Chemorittern auf Fantasiereise

Lena, Marco und Nicole Ziehm heute.
Lena, Marco und Nicole Ziehm heute.

© Privat

Die heile Welt der Kindheit muss hier in der Reha erst wieder mühsam zurückerobert werden. Dafür gibt es zum Beispiel eine Spielküche, in denen die Kinder gemeinsam mit den Betreuern ihre einfachen Lieblingsessen kochen können, Spaghetti mit Tomatensoße zum Beispiel oder mal eine Pizza. Das ist wichtig, denn eine Chemotherapie nimmt den Kindern oft den Appetit, alles schmecke bitter oder fade.
Und drei Zimmer weiter, in einem kuschelig eingerichteten Raum mit Liegewiese, bemalten Wänden und Diskokugel können die Kleinen auf Fantasiereise gehen. Die „Chemoritter“ sind oft mit dabei. Auch Lena begleiteten sie in der Reha. Den Begriff habe sie in einem Buch gefunden, erzählte Nicole Ziehm beim ersten Treffen. Er habe ihr gefallen, weil sie damit Lena gut erklären konnte, was da mit ihr geschieht und dass in ihrem kleinen Körper ein heftiger Kampf stattfindet. „Was sind die Chemoritter, Lena?“, fragte die Mutter. „Das sind die Guten“, antwortete Lena leise. Einmal täglich bis zu vier Kapseln musste sie in der Reha schlucken. Erhaltungstherapie nennen das die Mediziner. Damit der Krebs nicht zurückkehrt. Die Überlebenschancen bei Krebs im Kindesalter liegen bei 80 bis 90 Prozent. Im Schnitt. Es gibt Karzinome, da sieht die Prognose günstiger aus, und es gibt welche, da sieht sie schlechter aus. Bei der Leukämie, bei der weiße Blutkörperchen entarten und die Entstehung normaler Blutzellen in Knochenmark und Lymphsystem verhindern, sieht es besser aus. Und das auch wegen der „Chemoritter“.
Zwei Wochen waren sie nun schon in der Kindernachsorgeklinik, die ganze Familie. Sollten sich hier gemeinsam erholen und Lebenszuversicht tanken. Die Familie wohnte damals wie heute in Stendal im Norden von Sachsen-Anhalt. Vater Marco ist Triebfahrzeugschlosser bei einem Schienenfahrzeugbauer, bis heute. Lenas Mutter Nicole machte damals eine Weiterbildung zur Fachverkäuferin, ist inzwischen zur Filialleiterin eines Supermarktes aufgestiegen.

Der Krebs kam zurück - aber nicht zu Lena

In den Monaten nach der Reha blieb der Krebs zwar präsent, auch wenn die Frequenz der Nachuntersuchungen bei Lena zurückgegangen ist. Nach der Reha musste das Kind einmal im Monat zur Kontrolle in die Klinik, dann alle halbe Jahre, jetzt, sechs Jahre später, einmal jährlich. „Vergessen kann man das natürlich nie, aber der Alltag kommt immer mehr zurück“, sagt Marco Ziehm. „Man schiebt das Thema ganz weit weg“, sagt Nicole. Eine verständliche Schutzfunktion – und oft vergeblich. „Immer wenn Lena mal Fieber hatte, bekam ich sofort Panik, dass der Krebs zurück ist.“ Und er kam zurück – aber nicht zu Lena. Ein Jahr, nachdem Lena Chemotherapie und Reha hinter sich hatte, endlich wieder so etwas wie Alltag einzog, erhielt Nicole die Diagnose: Sie haben Brustkrebs. „Den kleinen Knoten habe ich selbst ertastet, bin dann gleich zum Arzt.“ Und wieder brach eine lange und belastende Krebsbehandlung in den Alltag der Familie ein. Auch Nicole bekam mehrere Chemotherapien. Auch sie ging durch das Tal aus Übelkeit, Sorge und Erschöpfung. Wie ihre Tochter anderthalb Jahre zuvor. Und ebenso wie Lena fielen Nicole infolge der Behandlung ihre Haare aus. „Jetzt hast Du auch eine coole Glatze wie ich“, habe ihr die Tochter mal zugeflüstert.

"Ich hätte euch doch nie verlassen können"

Wieder folgte auf die Behandlung eine Familien-Reha. Mit umgekehrten Rollen: die Mutter als Patientin, ihre Tochter als Unterstützerin, die sich sorgt. Die Klinik Ostseedeich in Grömitz in Schleswig-Holstein ist auf die Reha von an Brustkrebs erkrankten Müttern mit ihren Kindern spezialisiert. Denn allzu oft sei die Reha von krebskranken Frauen nur auf deren Behandlung ausgerichtet, doch oft sind die Frauen auch Mütter. Was ist dann mit den Kindern, die durch die Angst um das Leben der Mutter völlig überfordert sind? „Mütter, die durch eine Trennung eine weitere Destabilisierung ihrer Kinder befürchten, verzichten oft ganz auf eine Rehamaßnahme“, heißt es auf der Homepage der Klinik. „Rund 30 Prozent der Kinder körperlich schwerkranker Eltern entwickeln über zeitweilige Anpassungsstörungen hinausgehende, klinisch relevante Symptome, vor allem im Bereich von Angst, depressiven oder psychosomatischen Störungen.“ Die Klinik bietet deshalb eine stationäre Reha für Mütter mit der Diagnose Brustkrebs gemeinsam mit ihren Kindern.
Nicole war zehn Monate nach der ersten Chemo mit ihrer Tochter in Grömitz, hat sich langsam wieder zurückgetastet in ein normales Leben. Aber was ist nach so etwas schon normal? Viele, die Krebs durchgemacht haben, beginnen plötzlich, sich um ein gesundes Leben zu sorgen. Sie wollen nur noch Vollkorn, Gemüse und Obst essen. Meiden Fleisch und Alkohol. Wollen einfach keine Krebsrisiken mehr eingehen. Familie Ziehm macht das anders, und das ganz bewusst. „Wir ernähren uns weiter wie vorher auch“, sagt Marco. „Das war ja nicht ungesund, aber eben normal.“
Ein weiteres Kind aber, das kommt für beide nicht mehr in Frage. „Was ist, wenn das auch krank würde?“, sagt Nicole. „Da würde ich kaputtgehen.“
Die letzten Jahre haben die drei Ziehms fest zusammengeschweißt. 2015 haben Lenas Eltern geheiratet. Nicole Ziehm bekommt immer noch einen Kloß im Hals, wenn sie davon erzählt. „Marco hätte ja auch gehen können nach all den Belastungen der Krankheitsjahre – doch er ist nicht nur geblieben, er hat mich geheiratet.“ Marco Ziehm schüttelt heftig den Kopf. „Ich hätte euch doch nie verlassen können, nie. Was sollte uns denn jetzt noch auseinanderbringen können.“ Was für eine starke Familie.

Diesen Artikel finden Sie im aktuellen Gesundheitsratgeber "Tagesspiegel Vorsorge & Reha". Das Magazin enthält zum Beispiel auch eine Reportage über einen Rauchentwöhnungskurs oder einen Bericht zur Präexpositionsprophylaxe (PrEP) gegen HIV, außerdem Empfehlungen für Reha-Kliniken in Berlin und Brandenburg, aufgeschlüsselt nach Erkrankungen. Der Ratgeber kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520 sowie im Zeitschriftenhandel.

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