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Berlin: Werner und Liselotte Urbanski (Geb. 1925 / 1930)

"So gut wie heute habe ich schon lange nicht mehr gegessen"

Sie waren wie der rechte und der linke Schuh, sagen die Bekannten. 1950 lernten sich Liselotte und Werner beim Tanzen kennen. Er führte, sie lachte. Sie ließ sich fallen, er wirbelte sie über das Parkett. Im Alltag war es ähnlich, nur mit vertauschten Rollen. Er war der Ruhige und Genügsame, sie erledigte jede noch so kleine Sache mit einer getriebenen Ungeduld.

Als Sachbearbeiterin im Sozialamt lernte sie, zügig zu arbeiten, ohne engstirnig zu entscheiden. Einen Fall auf die lange Bank zu schieben, hätte sie dreimal schwerer ertragen als jeder ihrer Klienten. Auszusetzen gab es allenfalls eine gewisse verwaltungstechnische Spitzfindigkeit – und dass sie zu wenig Pausen machte. Große Reden schwang sie nicht, lieber kam sie direkt auf den Punkt. Das erwartete sie auch von den anderen: „Wollt ihr unsere Ferienwohnung übernehmen?“, fragte sie Bekannte. Als die erst am nächsten Tag antworteten, war die Wohnung schon an andere vergeben.

Werner war eher der sanftmütig Zurückhaltende. Auf einem Schwarz-WeißFoto sieht man ihn am Rande einer Begrüßungsszene: Bundespräsident Theodor Heuss entsteigt einer mit Wimpeln verzierten Limousine und wird vom Berliner Bürgermeister begrüßt. Im zarten Abstand daneben, hilfsbereit und in weißer Uniform, unsichtbar und doch präsent, der Schutzpolizist Werner Urbanski.

1948 war er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, zwei Jahre später ging er zur Polizei. Anfangs war er Streifen- und Bereitschaftspolizist, dann avancierte er zum Sportsachbearbeiter und Polizei-Faustballtrainer, um schließlich als Kontaktbereichsbeamter auf der Straße seinen Dienst zu verrichten. Als er in Pension ging, war er Hauptkommissar.

Ein anderes Foto, auf dem er sich zu einem Einschulungskind hinunterbeugt, zeigt ihn in so freundlicher Hinwendung, als posiere er für eine Imagebroschüre der Polizei. Werner Urbanski war ein Mann mit besten Manieren und großem Ordnungssinn, auch daheim: Die kleinste Fluse hob er vom Wohnzimmerteppich auf und trug sie zum Küchenmüll.

Eigene Kinder hatten die beiden nicht. Früher luden sie befreundete Paare zum privaten Oktoberfest nach Hause: Bier und Weißwurst unter bunten Zimmer-Girlanden. Später gingen sie oft ins Restaurant, fuhren ins Grüne und buchten, als Traumschiffreisen in Mode kamen, eine Kabine auf der „Finjet“. Was fehlte ihnen schon im Leben? Vielleicht etwas mehr Aufregung.

Was immer sie an Nöten mit sich trugen, sie behielten sie für sich. Andere an ihren Gefühlen teilhaben zu lassen, entsprach nicht ihrer Vorstellung von Anstand. Wer will schon anderen zur Last fallen?

Als Werner im Frühjahr dieses Jahres operiert werden sollte und der Termin näher kam, umsorgte ihn Lilo umso mehr. Sie schmiedete auch Reisepläne für die Zeit danach. Über ihre eigenen Schmerzen sprach sie nicht. Zwei Mal fiel sie vor Erschöpfung um, der Notarzt musste kommen. Doch statt sich zu schonen und sich eingehend untersuchen zu lassen, wiegelte sie ab: „Ich kann Werner doch jetzt nicht allein lassen!“ Am Ende blieb ihm keine Zeit, sich von ihr zu verabschieden. An dem Tag, als er sein Bett im Krankenhaus bezog, wurde auch sie eingeliefert, jedoch in eine andere Klinik. Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium.

Am ersten Abend telefonierten sie noch miteinander, von Krankenbett zu Krankenbett: „Alles in Ordnung“, sagte sie. „So gut wie heute habe ich schon lange nicht mehr gegessen!“ Auch den Bekannten, die sich um sie sorgten, berichtete sie vom schmackhaften Brot im Krankenhaus. Am zweiten Abend war sie zu müde und legte sich früh schlafen. Werner wartete vergeblich auf einen Anruf. Als man ihm am nächsten Tag mitteilte, dass seine Frau verstorben sei, klang er gefasst: „Ich hatte mir schon gedacht, dass etwas nicht stimmt!“

Seine Operation gelang, kurz darauf wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Er fuhr wie gewohnt mit dem Auto durch die Stadt und wunderte sich lediglich über das große Schlagloch in der Straße, das er übersehen hatte. Als die Polizei Stunden später bei ihm klingelte und fragte, ob er die Kollision mit dem anderen Wagen gar nicht bemerkt hätte, wusste er gar nicht, worum es ging: „Kollision? Ich? Nein!“

Sein Bewusstsein trübte sich ein seit Lilos Tod, Stück für Stück. Im August hätten sie ihren sechzigsten Hochzeitstag gefeiert, an einem Tag, den Werner nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte erlebte.

„Wo ist Lilo?“, fragte er immer öfter. „Aber, Werner, erinnerst du dich nicht? Lilo ist gestorben!“ Die Bekannten besuchten ihn und setzten sich zu ihm an den Mittagstisch. Einen Monat verbrachte er dann noch in einem Heim. Dann folgte er Lilo. Stephan Reisner

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