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In Deutschland ist die Polio-Impfung Teil einer Kombinationsimpfung.

© REUTERS/Valentyn Ogirenko

Welt-Polio-Tag: Berlins Kinder sind immer öfter ungeimpft

In Berlin sind weniger Kinder vor Polio geschützt als die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt. Ein erneuter Ausbruch wäre dadurch möglich.

Von Sandra Dassler

Erinnern Sie sich noch an diese Fernsehwerbung? Ein Junge fährt zu munterer Musik auf einem Go Kart, verkündet fröhlich, dass er Rallye-Fahrer werden möchte. „Kinder wollen so vieles werden in diesem Alter“, sagt ein Sprecher: „Quält Sie auch manchmal der Gedanke, dass irgendetwas dazwischen kommen könnte?“ Die Musik wird düster, die Fahrt des Jungen verlangsamt sich. „Kinderlähmung ist grausam“, sagt der Sprecher. Und nach einer quälend langen Schrecksekunde: „Schluckimpfung ist süß.“

Irgendwie hört sich das an wie „Alles ist gut!“ und auf den ersten Blick ist es das auch. Zumindest in Europa, wo Kinderlähmung, auch Poliomyelitis (kurz Polio) genannt, ausgerottet ist.

Dass zum Welt-Polio-Tag in der vergangenen Woche dennoch mahnende Stimmen zu hören waren, hat zwei Gründe: Zum einen ist die Kinderlähmung noch nicht überall in der Welt verschwunden, zum anderen lässt hierzulande die Impfbereitschaft so stark nach, dass ein erneuter Ausbruch möglich wäre. Das betrifft auch Berlin, wie die jüngsten Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) belegen.

93,5 Prozent der Berliner Schulkinder sind geimpft - für den Herdenschutz sind mindestens 95 Prozent notwendig

Demnach lagen die Impfquoten im Jahr 2017 bei Schulanfängern in der Hauptstadt bei 93,5 Prozent. Das ist zwar über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 92,9 Prozent, aber weit unter der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die hält eine Quote von mindestens 95 Prozent für notwendig. Erst dann sei der sogenannte Herden- oder Gemeinschaftsschutz so groß, dass sich die Krankheit nicht dramatisch ausbreiten könnte.

„Wir haben uns in letzter Zeit aus gegebenem Anlass vor allem um die Impfquoten bei Masern gekümmert, aber wir dürfen nicht die anderen Krankheiten vergessen“, sagt der Berliner Kinderarzt Martin Terhardt, der auch Mitglied in der Ständigen Impfkommission (Stiko) am RKI ist. 2015 lagen die Polio-Impfquoten in Berlin noch bei 95,5 Prozent – fast so hoch wie in Brandenburg, das mit 95,8 Prozent die WHO-Vorgabe locker erfüllt.

Bereits 2016 waren aber nur noch 94,1 der Berliner Schulanfänger gegen Polio geimpft. Das erfolgt gewöhnlich in den ersten beiden Lebensjahren in Kombination mit der Sechsfach-Impfung gegen Diphterie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus influenzae Typ b sowie Hepatitis B, erklärt Martin Terhardt.

Allerdings würden manche Eltern auf separaten Impfungen bestehen, weil sie ihr Kind beispielsweise nicht gegen Hepatitis impfen lassen wollten. „Dann müssen Ärzte abweichende Impfpläne aufstellen, was die Gefahr erhöht, dass etwas vergessen wird.“

Im Alter von neun bis 17 Jahren muss die Impfung noch einmal aufgefrischt werden. „Wir gehen nicht davon aus, dass es eine bewusste Ablehnung von Polio-Impfungen bei den Eltern gibt“, sagt die Sprecherin der Berliner Gesundheitsverwaltung, Lena Högemann: „Wir vermuten vielmehr, dass das Bewusstsein für diese gefährliche Erkrankung nachgelassen hat.“

„Die Zahl der rigorosen Impfgegner ist zurückgegangen“

Der Berliner Kinderarzt Ulrich Fegeler meint ebenfalls, dass es nicht an einer generellen Ablehnung von Impfungen liegt. „Ich habe schon den Eindruck, dass ich nicht mehr so viel diskutieren muss“, sagt er. Auch Susanne Glasmacher vom Robert-Koch-Institut geht eher von Nachlässigkeit aus. „Die Zahl der rigorosen Impfgegner ist zurückgegangen“, sagt sie. Und das sei gut so, denn so lange Polio nicht weltweit ausgerottet sei, könne es auch hier zu neuen Ausbrüchen kommen.

Probleme mit Kinderlähmung gibt es unter anderem in Afghanistan, Pakistan und Nigeria. Aber auch in Flüchtlingscamps in Syrien oder sogar in Israel seien Polio-Viren im Abwasser entdeckt worden, sagt Martin Terhardt: „Die sind aber wohl auf die Schluckimpfungen dort zurückzuführen.

Die erfolgen nämlich mit lebenden Viren, die von den Kindern mit dem Stuhl wieder ausgeschieden werden.“ Die Schluckimpfung sei in den Entwicklungsländern dennoch die effektivere Methode. In Deutschland und Europa würde hingegen seit längerem ein Tot-Impfstoff gespritzt.

Der alte Slogan „Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß“ kann also hierzulande gar nicht mehr angewendet werden. Aber auch der kleine Pieks mit der Nadel ist nichts im Vergleich mit dem Leid, das durch Kinderlähmung entsteht.

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