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Weihnachtsengel.

© Wolfgang Hilse

Weihnachtsoratorium im Berliner Dom: Christoph Hagel holt Tänzer aus dem Ruhestand

Christoph Hagel inszeniert Bachs Weihnachtsoratorium im Dom. Dafür holt er zwei Tänzer aus dem Ruhestand. Wolfgang Stiebritz (75) und Barbara Voß-Kindt (68) merkt man aber noch keine Altersmüdigkeit an.

Schweißtropfen laufen entlang der Lachfalten an seinen Wangen herunter, verschwinden im Kragen des schwarzen Hemdes. Darüber trägt Wolfgang Stiebritz einen Kapuzenpullover, es ist kalt im Berliner Dom. Unter den Augen Reste von schwarzer Schminke. Stiebritz atmet schwer, ist erkältet, lässt sich keuchend auf einer der Eichenbänke nieder. Fehlen darf er jetzt trotzdem nicht, einen Tag vorm großen Auftritt. „Dass so was noch mal kommt, hätte ich nicht gedacht“, sagt er mit tiefer Stimme und leicht sächsischem Dialekt. Die Lachfalten um seine Augen ziehen sich zusammen, er grinst. Wolfgang Stiebritz hat im September sein 75. Lebensjahr vollendet. Und trotzdem ist er eine der Hauptfiguren beim Weihnachtsoratorium, das am Donnerstagabend Premiere feierte.

Weiße Stulpen, muskulöse Oberschenkel

Neben ihm sitzt Barbara Voß-Kindt, 68 Jahre alt. Das rechte Bein aufgesetzt, rollt sie ihre cremeweißen Stulpen aus Wolle von ihrem rechten Fuß, übers Knie bis hoch zu ihrem Oberschenkel. Routiniert. Dabei wird der Blick auf ihren muskulösen Oberschenkel für einen Moment frei, bevor das rote Weihnachtskostüm mit weißem Plüschrand wieder darüberfällt. Sie strahlt. Ein Parfümduft umgibt sie. Sie zieht ihre verschlissenen Ballettschuhe aus braunem Leder wieder über ihre Füße. „Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter zu solch einem Ruhm komme. Schließlich bin ich ja schon auf dem Rückflug“, sagt sie und klappst dabei mit ihrer rechten Hand Stiebritz auf den Oberschenkel.

Getanztes Evangelium

Bis eben standen die beiden diplomierten Balletttänzer auf der Bühne, fürs Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian vor dem goldenen Altar im Chor des Berliner Doms. Neben dem Ensemble des Deutschen Fernsehballetts und Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin, übernehmen Voß-Kindt und Stiebritz hier zwei Gastrollen. In der Fassung von Dirigent und Regisseur Christoph Hagel wird die Weihnachtsgeschichte nach dem Evangelisten Lukas mit zeitgenössischem Tanz visualisiert. Hagel stellt in dem Musiktheater Weihnachtsgeschichte, Weihnachtsstress, Ernst und Satire einander gegenüber. Für Voß-Kindt und Stiebritz bedeutet das, dass sie als Tänzer aus dem Repertoire ihrer langen Karriere schöpfen können; denn die Choreografien in Hagels Inszenierung reichen von Barocktanz über Standard- und Lateinformationen bis hin zu Bollywood. Aber auch Revue und Elemente des Breakdance müssen Voß-Kindt und Stiebritz beherrschen – was ihnen nicht schwerer fällt als dem Rest des Ensembles mit Tänzern zwischen 25 und 30 Jahren. „Die haben uns genauso aufgenommen wie ihresgleichen“, sagt Wolfgang Stiebritz. Für ihn das größte Kompliment. „Der Regisseur, die Choreografen und die Kollegen haben mit sehr viel Respekt mit uns gearbeitet. So konnten wir machen, was wir noch können.“

Seit Ende Oktober proben sie täglich acht Stunden. Christoph Hagel, der schon die Zauberflöte in der U-Bahn inszenierte und Breakdance mit Bach und Mozart kombinierte, hat dabei bis zum Schluss Veränderungen vorgenommen. Was wochenlang einstudiert wurde, wurde eines Morgens alles wieder verworfen. „Seit zwei Tagen erst haben wir beispielsweise die vierminütige Familienszene“, erzählt Voß-Kindt, während sie ihren Fuß durchs Hosenbein einer schwarzen Trainingshose schiebt. „Die mussten wir zusammen mit den Sängern ganz neu lernen.“

Alter sticht heraus

Im Trubel der etwa 90-minütigen Inszenierung tanzen sie keineswegs aus der Reihe. „Wir hatten ein bisschen Angst, dass wir vorgeführt werden und die Zuschauer denken könnten, man hätte sich keine zwei weiteren jungen Tänzer leisten können“, sagt Stiebritz. Doch nein, die beiden Älteren tanzen nicht aus der Reihe, haben sogar einige Soli. „Schnell haben wir gemerkt, dass wir unserem Alter entsprechend herausstechen können.“

Und das obwohl die Ansprüche heute viel höher sind als früher, sagt Voß-Kindt, die schon mit vier Jahren begann und unter anderem an der Berliner Staatsoper tanzte. Später wurde sie als Ballettmeisterpädagogin mit Auszeichnung diplomiert und war Trainingsmeisterin beim Staatsballett Berlin. „Im Großen und Ganzen erfahre ich all das, was ich in den letzten 64 Jahren erlebt habe, in dieser Inszenierung auf und hinter der Bühne“, sagt sie. Ihr dunkelrot geschminkter Mund öffnet sich zu einem breiten Lächeln. Wolfgang Stiebritz hat seit vierzig Jahren in mehr als einer großen Rolle auf der Bühne gestanden. Nach seiner klassischen Ballettausbildung arbeitete er lange im Friedrichstadt-Palast, erst als Solotänzer, dann als Regieassistent, schließlich übernahm er die Ballettdirektion. Seither war er mehr hinter der Bühne aktiv.

„Umso beachtlicher, dass Wolfgang und ich hier mithalten können“, sagt Barbara Voß-Kindt.

Fitnessstudio mit 75

24 Aufführungen umfasst das Weihnachtsoratorium, am dritten Januar werden sie das letzte Mal über die hölzerne Bühne gleiten. Angst davor, dass ihnen danach langweilig wird, haben die beiden nicht. Wolfgang Stiebritz steht bereits parallel für Inszenierungen der Komischen Oper und der Staatsoper Berlin auf der Bühne, ganz kleine Rollen, sagt er, aber ganz lassen kann er es eben nicht. Und auch sonst geht er viel ins Theater, dreimal die Woche ins Fitnessstudio, „um Geist und Körper fit zu halten“, sagt er. „Ich möchte nicht wie andere in meinem Alter nur im Sessel sitzen und fernsehen.“ Barbara Voß-Kindt wird ab Januar wieder freiberuflich als Tanzpädagogin arbeiten und sich um ihren Garten kümmern.

Der Schweiß auf ihren Gesichtern ist gerade trocken, als sie zu einer weiteren Probe gebeten werden. Wolfgang Stiebritz und Barbara Voß-Kindt springen sofort auf – und lachen. Das Weihnachtsoratorium im Berliner Dom am Lustgarten, bis zum 3. Januar, Karten ab 26 Euro an den bekannten Vorverkaufsstellen, im Dom oder unter der Hotline 01806 39 53 00. Mehr Infos unter: www.weihnachtsoratorium-im-dom.de

Merle Collet

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