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Weihanchtsmarkt in Berlin.

© epd

Weihnachtsmärkte und Schlimmeres: So funktioniert der Winter in der Hauptstadt

Was wurde aus der Chinapfanne? Wie halten es Berliner mit Hüttengaudi, Lichterketten und ökologisch-bewusstem Frieren? Ein kalter Rundumschlag.

Es gibt ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Berliner Winter anbricht. Es ist der Moment, wenn Anfang November kräftige, wortkarge Männer am Potsdamer Platz die Rodelbahn zusammenschrauben. Kein größerer Gegensatz ist denkbar als jener zwischen der unvermeidlichen Ich-muss-meine-Bahn-kriegen-Hektik und diesem spielerisch gemeinten Symbol winterlicher Heiterkeit. Deshalb sieht es auch so aus: nass, von Matsch umgeben, mit der Aura eines schlecht besuchten Volksfestes, dem das Bier ausgegangen ist. „Auf Europas größter mobiler Rodelbahn rutschen die Besucher über eine Länge von 70 Metern der Skyline des Potsdamer Platzes entgegen“, tönt ein Werbetext.

Kann es Schlimmeres geben? Klar – die „Salzburger Hüttengaudi“ gleich unten dran mit leibhaftigem DJ, der alle, die zum Weglaufen schon zu stramm gefüllt sind, mit allerhand Geuffze von Ötzi bis Gabalier endgültig hirntot macht. Der Berliner Winter ist grau, nass und eher schneefrei, da hilft es auch nichts, sich bei den arglosen Alpenbewohnern ihre Traditionen zu leihen oder eine komplette „Winterwelt“ an einer der hässlichsten Kreuzungen der Stadt zu errichten. Ach so, das ist alles nur für Touristen?

Augenkrebs kommt bestimmt später

Gott sei Dank. Der Berliner nämlich tritt dem Winter lieber autonom und offensiv entgegen, er möchte ihm die nervende Gräue künstlich austreiben. Gelassen wartet er am Totensonntag bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann stellt er den Kaffee beiseite, schraubt die Sicherung rein und zack, erstrahlen Haus oder Balkon in allen Farben, die der Baumarkt hergibt.

Tagelange harte Installationsarbeit zeigt funkelnd ihre Früchte: In reinem Weiß leuchtet das Rentier mit seiner rotgeränderten Kutsche, ein Spot erhellt den Weihnachtsmann, der sackartig an der Regenrinne hängt, während die Engel in allen Regenbogenfarben ihr stummes Halleluja hinjubeln. Trotz neuzeitlicher LED-Technik verschlingt der Strom für eine solche Installation locker das Weihnachtsgeld, aber das ist dem Berliner die Sache wert – der Augenkrebs kommt ja bestimmt erst Jahre später, und der Klimawandel nimmt auf Weihnachten bestimmt auch mal Rücksicht.

Silvesternacht wird der Höhepunkt

Während eine solche kraftvolle Manifestation winterlicher Schönheit Nachbarn und Mitmenschen eher auf Abstand hält, ist der Weihnachtsmarkt eine Einladung für all jene, die Nähe und Enge suchen, das Gefühl. Oh, er hat über die letzten Jahrzehnte enorm an Niveau zugelegt! Die Chinapfanne ist vergessen, man friert und feiert ökologisch bewusst mit gebrannten Bio-Mandeln, gewendet in fair gehandeltem Rohrzucker, und der Kitsch kommt nicht aus China, sondern wird strikt regional unter Anwendung des Mindestlohngesetzes erzeugt. Jeder Aussteller hat für die historische Authentizität und Herkunft seiner Waren einzustehen, und selbst die Taschendiebe treten freundlicher auf als in den hellen Monaten des Sommers.

All das bereitet aber nur vor auf den alljährlichen Höhepunkt des Berliner Winterhalbjahres, die Silvesternacht. In der Innenstadt erinnert das Geschehen an einen Bürgerkrieg, weiter draußen an eine Treibjagd, und am nächsten Morgen übernehmen Stadtreinigung und Kopfschmerztabletten die Oberhoheit. Dann wird komischerweise auch die „Winterwelt“ schon wieder abgebaut. Es folgt der richtige Winter, in dem der Berliner auf sich allein zurückgeworfen ist, mit sich und dem Matsch. Und viel wärmenden Getränken. Die muss er sich dann allerdings auch selbst zusammenrühren.

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