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Nicht schön, aber essbar. Meint Mülltaucher Raphael Fellmer.

© Christoph Soeder/dpa

Weg damit? Wieso denn!: Mülltauchen soll kein Diebstahl mehr sein

Das Sammeln weggeworfener Lebensmittel soll straffrei werden. Aktivisten wie Raphael Fellmer fordern das schon lange.

Von Sandra Dassler

Raphael Fellmer kann es kaum glauben. „Davon habe ich immer geträumt, als ich meinen Doktor im Mülltauchen gemacht habe“, sagt der Mittdreißiger. „Dabei haben uns die Politiker immer gesagt, dass das nicht geht, weil Deutschland ein Rechtsstaat ist. Und jetzt könnte Containern tatsächlich straffrei werden.“

„Mülltauchen“ oder „Containern“ nennt man das Sammeln weggeworfener Lebensmitteln aus Abfallbehältern, meist vor Supermärkten und Lebensmittel-Discountern. Juristisch gilt das bislang als Diebstahl. Wenn Firmen Anzeigen stellen, werden die Mülltaucher, die sich oft Lebensmittel-Retter nennen, auch angeklagt. Hamburgs grüner Justizsenator Till Steffen will das nun ändern und das Containern legalisieren. Berlin und Brandenburg unterstützen den Vorschlag, wie die Sprecher der beiden Justizbehörden auf Anfrage des Tagesspiegels mitteilten.

Viele Lebensmittel werden nur deshalb entsorgt, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist oder kleine Mängel wie Druckstellen an Obst aufgetreten sind. Während manche Menschen containern, um sich Nahrung zu verschaffen, ist es für andere vor allem ein Protest gegen die Wegwerfgesellschaft. Raphael Fellmer hat vor zehn Jahren damit begonnen, nachdem er ein Video über Lebensmittelverschwendung gesehen hatte.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass weltweit jährlich etwa 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Müll landen. In Deutschland sollen es zwischen 13 und 18 Millionen Tonnen sein – auch weil es billiger ist, ein ganzes Netz mit Orangen wegzuwerfen als eine angefaulte Orange herausnehmen zu lassen.

Noch ist Einsammeln weggeworfener Lebensmittel juristisch Diebstahl

„Angesichts der obszönen Mengen an Lebensmitteln, die täglich weggeworfen werden, ist es nicht nachvollziehbar, das Containern zu bestrafen“, sagte der stellvertretende Sprecher der Berliner Justizverwaltung, Michael Reis: „Deshalb sollte Containern straffrei sein.“

Bislang gilt, dass es sich um Diebstahl gemäß Paragraph 242 Strafgesetzbuch handelt, wenn „verzehrbare Lebensmittel aufgefunden und mitgenommen“ werden. Im Einzelfall wurden Menschen, die, um an die Container zu kommen, über Zäune kletterten, auch schon wegen besonders schweren Diebstahls oder Hausfriedensbruchs verurteilt. Dies findet zwar immer seltener statt, weil der Einzelhandel oft keine Anzeige stellt, um sich nicht selbst der Kritik auszusetzen.

Mülltauchende Studentinnen wegen "schweren Diebstahls" verurteilt

In Berlin erinnert sich jedenfalls weder in der Pressestelle der Staatsanwaltschaft noch der Gerichte jemand an ein solches Verfahren in jüngerer Vergangenheit. Im bayerischen Fürstenfeldbruck hingegen wurden erst Anfang des Jahres zwei Studentinnen wegen „schweren Diebstahls“ zu Geldstrafen und Sozialarbeit verurteilt. Sie hatten den Müllcontainer eines Marktes aufgeschlossen und Waren im Neuwert von etwa 100 Euro herausgefischt.

Die Polizei hatte sie erwischt, die Beute dokumentiert und zurück in die Tonne geworfen. Der Marktleiter hatte Anzeige erstattet. Die Argumentation des Anwalts der Frauen, wonach der Supermarkt mit der Entsorgung der Lebensmittel seinen Besitzanspruch aufgegeben habe, überzeugte den Richter nicht.

Lebensmittelverschwendung gerät immer mehr ins Bewusstsein

Dass Containern immer noch als Diebstahl gewertet wird, sei längst nicht mehr nachvollziehbar, sagt der Sprecher des brandenburgischen Justizministeriums, Uwe Krink: „Wir werden deshalb den Vorschlag Hamburgs auf der Konferenz der Justizminister in der kommenden Woche voll und ganz unterstützen.“

Das Problembewusstsein in Sachen Lebensmittelverschwendung sei generell stark gewachsen, sagt Fellmer. Er selbst hat viel dazu beigetragen: Fünf Jahre lang ohne Geld gelebt, eine Kooperation mit der Bio Company zur Rettung von Lebensmitteln ins Leben gerufen, das Online-Portal „foodsharing“ gegründet, wo Firmen und Ehrenamtliche Lebensmittel vor dem Verfall an soziale Einrichtungen oder andere Personen verteilen, und nicht zuletzt „Retter-Märkte Sirplus“ gegründet. An mehreren Standorten in Berlin werden dort Waren verkauft, die ihm Konzerne für wenig Geld überlassen und so Entsorgungskosten sparen.

Allerdings werden noch immer unendlich viele Lebensmittel weggeworfen, sagt Fellmer und begrüßt deshalb, dass Hamburgs Justizsenator alternativ zur Legalisierung des Containerns ein Wegwerfverbot für Supermärkte vorschlagen will. Da aber die meisten Lebensmittel zu Hause verschwendet würden, sei es noch wichtiger, das Bewusstsein der Verbraucher zu schärfen: „Es wäre schon viel gewonnen, wenn jeder begreifen würde, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum kein Wegwerfdatum ist.“

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