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Das Berliner Stromnetz ist nur ein winziger Teil des großen westeuropäischen Verbunds, der von Portugal bis Polen und von Jütland bis Sizilien reicht.

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Was man zum Volksentscheid Energie in Berlin wissen muss: Wie funktioniert ein Stromnetz?

36 000 Kilometer Kabel und 2,3 Millionen Enden: dieses Riesengeflecht bildet das Berliner Stromnetz. Doch wie funktioniert dieses Netz eigentlich?

Über die Rekommunalisierung des Berliner Stromnetzes abstimmen kann jeder – zumindest an diesem Sonntag und sofern er wahlberechtigt ist. Aber seine Funktion erklären kann wohl kaum jemand besser als Thomas Schäfer. Als Technikchef der Vattenfall-Tochter Stromnetz Berlin GmbH weiß er, woher der Strom der Berliner kommt, warum manchmal das Licht flackert und was wirklich passiert, wenn ein Berliner Haushalt beispielsweise Ökostrom bei einem schwäbischen Stadtwerk bestellt. Nach einer Stunde Gespräch und ein paar Skizzen in Schäfers Notizblock ist klar, dass der Netzbetrieb zwar komplex ist, aber keine Hexerei.

Das Berliner Stromnetz besteht aus 36 000 Kilometern Kabel

Was jetzt zur Debatte steht und zum Jahresbeginn 2015 neu vergeben werden soll, ist ein Geflecht aus 36 000 Kilometern Kabel mit rund 25 000 Knoten unterschiedlicher Größe und 2,3 Millionen Enden. An denen hängen die Verbraucher. Der Strom, den Vattenfall ihnen liefert – als Netzbetreiber ist Vattenfall immer der Lieferant –, wird an anderen, in der Nähe liegenden Enden eingespeist. Das geschieht zeitgleich mit dem Verbrauch, denn das Netz taugt bisher nicht als Speicher.

Diese immerwährende Liveshow ist eine Herausforderung für alle Netzbetreiber, die mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien wächst: Nach Auskunft von Schäfer produzieren allein die Solaranlagen zwischen Lausitz und Ostsee bis zu 2,5 Milliarden Watt. Das ist so viel, wie ganz Berlin auf einmal verbraucht. Aber leider drängt der Solarstrom nur an sonnigen Tagen derart heftig ins Netz, statt an dunklen Winterabenden, an denen er viel eher gebraucht würde. Ähnlich launisch sind die bis zu 4,5 Milliarden Watt, die die Windräder der Region liefern. Damit das Netz nicht kollabiert, müssen die konventionellen Kraftwerke heruntergeregelt und der Ökostrom in Echtzeit irgendwo verbraucht werden, wenn der Wind weht oder die Sonne scheint. So wird Deutschland immer wieder zum Stromexporteur. Und deshalb klagen die Kraftwerksbetreiber über die immer geringere Auslastung ihrer Kohle- und Gasmeiler – während sich Umweltschützer freuen, dass ein immer größerer Anteil der verbrauchten Energie regenerativ erzeugt wird.

Erst in Berlin beginnt die Verantwortung von Vattenfall

Das Berliner Stromnetz ist ein winziger Teil des großen westeuropäischen Verbunds, der von Portugal bis Polen und von Jütland bis Sizilien reicht. Man kann sich dieses internationale Übertragungsnetz wie ein Geflecht von Autobahnen vorstellen: Erst an den Ausfahrten, die nach Berlin führen, beginnt die Verantwortung der hiesigen Netzgesellschaft. Während auf den Autobahnen Vollgas bzw. „Höchstspannung“ – nämlich 380 000 Volt – gefahren wird, sind es in Berlin höchstens 110 000 Volt. Diese sogenannte Hochspannungsebene bildet den zentralen Teil des Netzes, vergleichbar den großen Ausfallstraßen. 72 Umspannwerke transformieren die Hoch- zu Mittelspannung von 10 000 Volt. Großverbraucher wie Industriebetriebe hängen direkt an diesen dicken Drähten im Netz. Für Privatkunden und kleinere Gewerbetreibende stehen zusätzlich rund 8000 Trafohäuschen in der Stadt, die die Spannung auf 400 Volt für die Hausanschlüsse reduzieren. Dass es unterschiedliche Spannungsebenen gibt, hat technische Gründe: Bei hoher Spannung lässt sich Strom mit weniger Verlusten leiten.

Vom Erzeuger zum Verbraucher fließt der Strom auf einem virtuellen und einem realen Weg. Der reale ist der kürzeste. Er führt beispielsweise vom Solardach des Nachbarn oder einem Block des nächstgelegenen Kraftwerks zum heimischen Sicherungskasten. Da in Berlin bis zu 2,5 Milliarden Watt verbraucht werden, aber alle Erzeuger zusammen laut Schäfer nur gut halb so viel liefern können, wird Strom aus dem Umland importiert – von Windrädern um den Autobahnring oder Kohlekraftwerken aus der Lausitz.

In Berlin fällt der Strom pro Kopf und Jahr zwölf Minuten lang aus

Für die Kunden wichtiger ist der virtuelle Weg: Schäfer erklärt das System als einen großen See mit vielen Zuflüssen. Wer irgendwo Ökostrom kauft, öffnet einen sauberen Zufluss, weil eben jener Anbieter dann die gewünschte Menge sauberen Stroms in den See leitet. Dafür wird ein anderer – vielleicht nicht so sauberer – Zufluss gedrosselt. Der Netzbetreiber wacht darüber, dass der Pegel konstant bleibt. Der Ort der Zuflüsse tut nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass das Anschwellen der sauberen Quellen den Stromsee insgesamt reinigt. Deshalb nützt ein Ökostromtarif der Umwelt auch dann, wenn der Strom real aus einem nahen Kohlekraftwerk kommt.

Vattenfalls Stromnetztochter wirbt gern mit ihrer Zuverlässigkeit. Statistisch gesehen fällt beim Durchschnittsberliner nur rund zwölf Minuten im Jahr der Strom aus – gegenüber 15 Minuten im bundesweiten Mittel. Real ist es in Berlin eher eine Dreiviertelstunde alle vier Jahre. Dass die Kabel in Berlin fast komplett unterirdisch liegen, schützt sie vor Unwettern, aber gefährdet sie bei Tiefbauarbeiten. Ein System aus Ringen lässt beim Ausfall eines wichtigen Kabels den Strom auf anderem Weg zu den Kunden fließen. Je höher die Ebene im Netz, desto enger sind die Ringe gelegt und desto weiter ist die Technik automatisiert: Bei einer Störung im Hochspannungsnetz wird die Umleitung binnen Sekunden freigeschaltet. So flackert nur die Lampe. Sonst säßen bei einem einzigen Defekt bis zu 80 000 Menschen im Dunkeln. Im Mittelspannungsnetz mit bis zu 1000 Abnehmern pro Ring kann die Leitwarte zumindest in einigen Stadtteilen schon per Ferndiagnose den Ort des Fehlers finden – und die Umleitung freischalten, während die Techniker den Schaden in Ruhe reparieren können. Von den 280 Millionen Euro, die Vattenfall nach eigenen Angaben dieses Jahr ins Berliner Netz investiert, geht ein großer Teil in diese Automatisierung.

Nur die feinsten Maschen im Netz, die Hausanschlüsse, haben keine solche Sicherheit. Wird das Kabel zwischen Gehweg und Haus durchtrennt, muss gebuddelt werden. Und der überschüssige Strom muss schnell einen anderen Abnehmer finden, damit der Pegel im See nicht steigt.

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