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Was gilt in Deutschland als Antisemtismus?: "Judenfeinde sind ohnehin die Anderen"

Forscher der Technischen Universität untersuchen Antisemitismus in Berlin – und tappen, wo es um die Zahl der tatsächlichen Vorfälle geht, weiter im Dunkeln.

„Union, Union, Union“ ruft der lädierte Betrunkene beim Betreten des Späti, fragt den asiatischen Verkäufer grob nach einer Krankenschwester, rempelt den nächsten Kunden an, ob der ihm nun helfe oder ob er ein Jude sei – und kontert die Reaktion des Gerempelten mit „Scheiß Israel“.

Der Briefkasten einer Stolperstein-Aktivistin wird mit Böllern gesprengt, ihre Tür mit Hetz-Parolen beschmiert.

In der JVA Plötzensee verletzen zwei Häftlinge einen anderen wegen seines jüdischen Glaubens mit einem Eimer.

Und am Al-Quds-Tag marschieren Islamisten, türkische Faschisten und Antiimperialisten mit Hass-Parolen und Terroristen-Fahnen über den Kudamm.

Eine wilde Mischung von antijüdischen Konfrontationen präsentiert der neue Bericht „Antisemitismus als Problem und Symbol. Phänomene und Interventionen in Berlin“ auf 140 Seiten: Die Vielfalt der Beispiele soll zeigen, wie der Terminus zu einem „Containerbegriff“ geworden sei, der verallgemeinert und „unifiziert“.

Das Forschungsprojekt der Technischen Universität (TU) hat, geleitet von Werner Bergemann, die Jahre 2011 bis 2013 untersucht; aber, wie zugegeben wird, nur „fragmentarisches Wissen“ zusammentragen können. Ereignisse des Sommers 2014, kommentiert Stefanie Schüler-Springorum, Direktorin des TU-Zentrums für Antisemitismusforschung, hätten die Ergebnisse der Studie allerdings bestätigt: Wo aktuell über Antisemitismus geredet werde, stehe die „Trägergruppe“ der ethnischen oder musilimischen Zuschreibungen im Vordergrund. Die Polizeistatistik zeige dagegen bei tatsächlich diesem Thema eine Dominanz der extremen Rechten. In Gedenkstätten und Museen seien es wiederum ältere Bürger, die durch antijüdische Beleidigungen auffallen. Ein „Gefühl der Verwirrtheit“ beschleiche das Publikum angesichts kontrastierender Einschätzungen journalistischer oder wissenschaftlicher Antisemitismus-Experten; solche Protagonisten der öffentlichen Debatten seien für diese Studie leider nicht interviewt worden, sagt die Historikerin.

Hingucken. Zuletzt wurde auch bei der Demo „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ gegen Antisemitismus demonstriert.
Hingucken. Zuletzt wurde auch bei der Demo „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ gegen Antisemitismus demonstriert.

© Maja Hitij / picture alliance / dpa

Was gilt als Antisemitismus, wie entwickelt der sich qualitativ und quantitativ? Befragt wurden Bekenner des Ressentiments, bedrohte Personen, das Zahlenwerk der Behörden und Akteure von 49 Gegen-Initiativen und helfenden Anlaufstellen. Berlin sei mit 28 Prozent Migranten, zwei Prozent arabischer, fünf Prozent türkischer Herkunft einerseits, mit seiner NS-Geschichte andererseits ein besonderes Feld, da „nationalspezifische Aufladungen“ und staatlicher Anti-Antisemitismus vielen Zuwanderern wenig einleuchten. Von antisemitischen Straftaten (2010: 148, 2011: 129, 2012: 208, 2013: 192) gingen dennoch 90 Prozent und mehr aufs Konto Rechtsextremer. Die reale Zahl der Straftaten liege jedoch deutlich darüber, für Berlin gibt es aber keine Dunkelfeldstudie. Auch an Schulen sei die Bereitschaft zu Übergriffs-Meldungen, da diese für die geforderten Lehrer einen Zusatzaufwand darstellen, unterschiedlich ausgeprägt. Der Akteur eines Bildungsprojektes sagt, viele muslimische Vertreter verdrängten das Problem: „Was außen präsentiert wird, ist nicht, was eigentlich im Hinterhof und so weiter passiert.“ Manche Unternehmen verfolgen antijüdisches Mobbing aus Imagegründen lieber nicht.

Zuletzt äußern die Autoren leise Kritik an der Tabuisierung eines staatliches „Legitimationssymbols“, als das der Anti-Antisemitismus wahrgenommen wird: Die Kommunikation verlaufe zwanghaft „binär“ - es gebe nur Antisemitismus oder Anti-Antisemitismus. Bei muslimisch sozialisierten Jugendlichen bietet man den Nutzern der Studie sogar ein Erklärungsmodell an: Individuen seien bestrebt, eine „negative Bewertung ihrer Eigengruppe“ durch Herabsetzung einer Vergleichsgruppe zu kompensieren und sich selbst auf diese Weise aufzuwerten. Zur Klassifizierung diverser „Antisemitismen“ wird ein genauerer Sprachgebrauch empfohlen, verbunden mit einer möglichst konkreten Einschätzung von Gefahrengraden: Abstrakte Risiko-Einschätzung helfe wenig, nicht jedes Phänomen habe die gleiche „Bedrohungsqualität“. Statt bekenntnishaft in den Empörungsmodus zu fallen, solle jeder bedenken, wieweit er selbst involviert sei: „Antisemiten sind ohnehin immer die anderen.“

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