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Ein Einschussloch ist in einer Haustür in der Stresemannstraße zu sehen. Am frühen Morgen des zweiten Weihnachtstages fielen hier Schüsse.

© Paul Zinken/dpa

Warum war Veysel K. auf freiem Fuß?: Opfer der Schießerei in Berlin-Kreuzberg ist selbst verurteilt

Bei der Schießerei in Kreuzberg wurde auch Veysel K. getroffen. Er hatte im September eine fast dreijährige Haftstrafe erhalten. Weshalb war er frei?

Der 30-Jährige mit italienischem Familienhintergrund, der am Samstagmorgen in der Stresemannstraße in Kreuzberg auf drei Männer aus der Berliner Unterwelt und dem Clan-Milieu geschossen hat, feuerte seine Waffe auch noch ab, als zumindest einer der Verletzten schon auf dem Boden lag. Das haben nach Informationen des Tagesspiegels die Ermittlungen der Polizei ergeben.

Zuvor soll er plötzlich auf die Männer geschossen haben, die mutmaßlich in einer Pokerrunde zusammen gesessen hatten. Deshalb wurde Haftbefehl wegen des Verdachts des heimtückischen Mords ausgestellt.

Der 30-Jährige ist zwar keine bekannte Größe der Berliner Unterwelt. Er hat jedoch Vorstrafen wegen Diebstahls, Betrugs, Urkundenfälschung sowie Delikten im Straßenverkehr. Wegen gemeinschaftlichen versuchten Betrugs wurde er zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die anderen Delikte wurden mit Geldstrafen sanktioniert.

Einer der Männer, die getroffen wurden, ist der 39-jährige Veysel K. Er ist durchaus eine bekannte Figur im Clan-Milieu der Stadt. Er füllte eine Rolle als Vollstrecker für kriminelle Clan-Mitglieder aus. Nach Erkenntnissen der Polizei hat er zurückgeschossen, deshalb ist auch er wegen unerlaubten Führens und Besitzes einer Schusswaffe ebenfalls verhaftet worden. Derzeit liegt er aber ebenso wie der 30-Jährige im Krankenhaus.

Dass Veysel K. überhaupt bei der Pokerrunde dabei sein konnte, dass er mithin auf freiem Fuß war, hat außerhalb der Justiz erstaunt und für Diskussionen gesorgt. Denn der 39-Jährige war im September 2020 vom Landgericht Berlin zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden. Bestraft wurden damit Verstöße gegen das Waffengesetz, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln und Verstöße gegen Weisungen der Führungsaufsicht.

K. schoss in Charlottenburg sieben Mal in die Luft

Veysel K. hatte im November 2019 vor dem „Café Einstein“ in Charlottenburg in Wildwestmanier sieben Mal in die Luft geschossen, die Gründe sind unbekannt. Wegen der Schüsse wurde er am 21. Februar 2020 festgenommen. Dabei entdeckten Polizisten Kokain bei ihm. Schon am 25. Januar 2020 hatte er bei einer Polizeikontrolle Kokaingemisch bei sich gehabt.

Auch am 11. Februar hatten Beamte bei einer weiteren Kontrolle Kokain bei ihm gefunden. Nach einer Gefängnisstrafe 2017 stand er zudem unter Führungsaufsicht.

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Doch unmittelbar nach dem Urteilsspruch im September 2020 ging Veysel K. nicht in eine Zelle zurück, sondern unbehelligt aus dem Gerichtsgebäude. Das Gericht hatte ihn vor weiterer Untersuchungshaft verschont, allerdings unter Auflagen: Der 39-Jährige musste sich zweimal pro Woche bei dem für ihn zuständigen Polizeiabschnitt melden, seinen Reisepass abgeben und 5000 Euro Kaution hinterlegen.

Keine U-Haft, weil K. Revision eingelegt hat

Weshalb diese Haftverschonung, die für viele nicht juristische Beobachter unverständlich ist? „Weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist“, sagt Lisa Jani, die Sprecherin der Berliner Strafgerichte. Denn Veysel K. hat über seinen Anwalt Revision gegen das Urteil eingelegt. Und der Bundesgerichtshof (BGH) hat über diese Revision noch nicht entschieden. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: „Untersuchungshaft dient nur der Sicherung des Verfahrens. Und wenn es mildere Mittel für diese Sicherung gibt als U-Haft, müssen diese Mittel angewandt werden“, sagt Lisa Jani.

Es gibt drei Gründe für U-Haft: Flucht-, Verdunklungs- und/oder Wiederholungsgefahr. „Das Gericht hatte wohl Fluchtgefahr im Auge, deshalb musste er den Reisepass abgeben“, sagt Jani. Aber so groß, dass U-Haft angemessen gewesen wäre, war die Fluchtgefahr wohl doch nicht.

Auch Wiederholungsgefahr hat bei K. nicht gegolten

Allerdings gibt es ja auch den Punkt „Wiederholungsgefahr“. Veysel K. war wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Führens einer halbautomatischen Waffe sowie wegen Kokainbesitzes verurteilt worden. Der aktuelle Haftbefehl wurde wegen unerlaubten Führens und Besitzes einer Waffe ausgestellt. Keine Wiederholungsgefahr?

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„Nein“, sagt Lisa Jani. „U-Haft wegen Wiederholungsgefahr kann nur bei bestimmten Taten angeordnet werden. Da geht es um Sexualdelikte oder Taten eines Serientäters. Unerlaubter Waffenbesitz und Besitz von Betäubungsmitteln gehört nicht dazu.“ Zudem müsse man einen Punkt beachten: „Untersuchungshaft dient, außer in den genannten Fällen, nicht dazu, weitere Straftaten zu verhindern. Man kann nicht sagen, eine Person komme vorsorglich in Untersuchungshaft, weil sie bestimmte Vorstrafen hat.“ U-Haft beziehe sich immer nur ein ganz bestimmtes Verfahren

Und sicher, Veysel K. sei jetzt wieder mit einer Waffe angetroffen worden, „aber das konnte ja niemand vorhersehen. Die Richter können ja nicht in eine Glaskugel schauen“, sagt Gerichtssprecherin Jani. Dieser Waffenbesitz könne nur eventuell bei einem neuen Verfahren eine Rolle spielen. Möglicherweise habe dieser Umstand Bedeutung für die Frage einer Untersuchungshaft. Aber das entscheide allein das Gericht.

Wir haben eine drastischere Formulierung der Passage zu den sieben Schüssen in Charlottenburg aus einer früheren Version des Texts entschärft.

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