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Überall im Land treffen derzeit Politiker wie Karl Lauterbach (links) auf Bürger und Mitbewerber.

© Oliver Berg/dpa

Wahlkampf – und dann?: „Lasst euch öfter hier sehen, Politiker!“

Vor der Wahl sind sie omnipräsent in den Kiezen. Doch wer unsere Stimmen bekommen will, sollte nicht nur alle paar Jahre vorbeischauen. Ein Kommentar.

Irgendwie kam mir das Gesicht bekannt vor. Wo hatte ich den Mann, der sich mir vor zwei Wochen auf dem Weg zur S-Bahn in den Weg stellte, schon einmal gesehen? Erst dank eines Infoblättchens, das er und seine Mitstreiter verteilten, erkannte ich ihn: Es war unser Bezirksbürgermeister, der jetzt ins Abgeordnetenhaus will.

Sein Konterfei hängt seit Wochen an jeder zweiten Laterne bei uns im Viertel. Wieso habe ich den nicht sofort erkannt, obwohl ich seit bald zwei Jahren in seinem Bezirk wohne? Ein wenig lag es daran, dass er in echt kleiner und unscheinbarer wirkt als auf den Werbefotos. Vor allem aber hatte ich den Mann noch nie zuvor persönlich gesehen.

Jetzt begrüßt er uns freundlich wie alte Bekannte und will darüber sprechen, was in Berlin nicht gut läuft und welche Anliegen er künftig im Abgeordnetenhaus vertreten soll. Wie schön, dass er sich mal bei uns blicken lässt – aber wieso erst jetzt?

Am vergangenen Sonnabend sah ich ihn wieder, da wurde es rund um unseren S-Bahnhof richtig eng. Neben dem Bürgermeister und seinem Team hatten vier weitere Parteigrüppchen ihre Stände aufgebaut. An einem bot eine Abgeordnetenhaus-Politikerin Kugelschreiber und Luftballons an, an einem anderen gab es Blumenzwiebeln von einem Menschen, der für die Bezirksverordnetenversammlung kandidiert. 

Dazu werden uns von jeder Seite stapelweise Informationsblätter angeboten. Überall zeigten sie großes Interesse an unserem Wohlbefinden, es wurde viel diskutiert, immer wieder blieben Passantinnen und Passanten stehen, um Fragen zu stellen oder ihre Meinung zu sagen.

Haben wir Wählende eine Bringschuld, unsere Abgeordneten zu kennen?

Für einen Moment konnte man sich hier tatsächlich wie der Souverän fühlen, von dem alle Staatsgewalt ausgeht.

Doch nach diesem Sonntag, so ist zu erwarten, wird es wieder vorbei sein mit der Zugewandtheit. Wenn alle unsere Stimmen ausgezählt sind, dürfte es vier beziehungsweise fünf Jahre dauern, bis die meisten der Gewählten sich wieder bei uns sehen lassen und fragen, wo der Schuh drückt. Ja, zwischendurch bieten sie auch mal eine Bürgersprechstunde an – aber die findet oft in Parteibüros weit entfernt von unseren Kiezen statt.

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Das geht doch auch anders! Wieso stellen sie ihre Stände nicht auch nach der Wahl weiterhin alle paar Wochen in unseren Wohnvierteln auf und sind für uns da?

Liebe Wahlkämpfende, bleibt mit uns im Gespräch

Kürzlich erregte eine Umfrage unter jungen Wählenden die Gemüter. 53 Prozent der 18- bis 29-Jährigen kennen die Abgeordneten aus ihrem Wahlkreis nicht, lautete eines der Ergebnisse. „Erschreckend“ fand das ein Zeitungskommentator, ein öffentlich-rechtlicher Sender ätzte: „Junge Wähler sind planlos“.

Die wichtigsten Tagesspiegel-Artikel zur Bundestagswahl 2021:

Mag sein – aber ich bezweifle, dass das Ergebnis bei Älteren viel besser ist. Und überhaupt: Haben wir als Wählende denn eine Bringschuld, die zu kennen, die uns in den Parlamenten vertreten?

Eigentlich müsste es doch andersherum sein: Wer von uns gewählt werden will, sollte so viel wie möglich dafür tun, uns wirklich kennenzulernen.

Also, liebe Wahlkämpfende, packt die Stehtische und Sonnenschirme jetzt nicht für die nächsten Jahre zurück in die Keller, sondern klappt sie weiterhin regelmäßig auf, um mit den Menschen im Gespräch zu bleiben. Dann erkennen wir euch bei der nächsten persönlichen Begegnung sicher gleich auf Anhieb.

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