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Im Dauereinsatz. Bei den Drogendelikten führt Friedrichshain-Kreuzberg (hier der Görlitzer Park) die Statistik der Berliner Polizei an.

©  Paul Zinken / dpa

Wahl-Serie, heute: Sicherheit: Wie kann Berlin sicherer werden?

Statistiken zur Kriminalität liefern für Berlin widersprüchliche Aussagen. Aber wie erleben Opfer von Gewalt die aktuelle Situation?  Zwei Betroffene erzählen.

Die Hand schmerzt noch. Der Stich hat die Gelenkkapsel des Daumens zerschnitten. Barbara U. passt auf, was sie ihrer Rechten zumutet, auch wenn sie froh ist, dass der Messerangriff offenbar keine bleibenden Schäden angerichtet hat. Mit Blessuren hat Barbara U., 50, überstanden, was im Strafgesetzbuch als „gefährliche Körperverletzung“ beschrieben ist – ein Angriff auf die Unversehrtheit eines anderen „mittels einer Waffe“.

Immerhin kann sie schon wieder scherzen. Zum Glück seien keine Sehnen zerschnitten worden, sagt sie, sie spiele nämlich Cello – auch wenn es ihrem Sohn vermutlich lieber wäre, wenn sie das nicht mehr könnte. 769 Attacken dieser Art, „Straftaten mit dem Tatmittel Messer“, wie es in der Kriminalstatistik heißt, hat es 2015 in Berlin gegeben, Tendenz steigend, seit 2010.

Die Statistik sagt nichts über die Wahrscheinlichkeit, in Berlin Opfer einer Straftat zu werden. Weniger Mord und Totschlag, weniger Raub, sogar weniger Einbrüche haben die Polizeistatistiker 2015 im Vergleich zum Jahr davor gezählt, aber mehr Taschen- und Ladendiebstähle. Gründe zur Freude und zum Eigenlob der Politiker: „Das Risiko war seit Mitte der 90er Jahre nicht mehr so gering, in Berlin Opfer einer Gewalttat zu werden. Und damals lebten noch bedeutend weniger Menschen in der Stadt“, heißt es in der Bilanz der CDU-Fraktion, und der CDU-Spitzenkandidat und Innensenator Frank Henkel kann den Satz gewiss auswendig. Tatsache ist aber, dass die Berliner im Durchschnitt älter geworden sind als Mitte der 90er Jahre – das wirkt dämpfend auf die kriminelle Energie. Tatsache ist auch, dass Erfahrungen, wie sie Barbara U. gemacht hat, auf jeden verstörend wirken, der Zeuge eines solchen Angriffs wird oder nur davon erzählt bekommt.

"Ich konnte das nicht mitansehen"

Es war der Abend des 16. Juli, ein Samstag. Barbara U. war mit einer Freundin auf dem Motzstraßen-Fest in Schöneberg gewesen. Sie hätten gerade ihre Fahrräder aufschließen wollen, sagt Barbara U., sie einen jungen Mann bemerkte, der von zwei anderen verfolgt wurde. Einer von beiden habe eine Flasche über den Kopf geschwenkt, den jungen Mann dann von hinten getreten, der sei gestürzt, seine Verfolger hätten dann auf ihn eingetreten. Man habe gerufen, viele Menschen seien unterwegs gewesen, aber „die hörten nicht auf. Da bin ich hin. Ich konnte das nicht mitansehen.“

Die Männer? „Ganz normale Berliner“, sagt Barbara U.: Jeans T-Shirt, Käppi, zwischen Mitte 20 und Mitte 30. Barbara U., eine schlanke, nicht besonders große Frau, ist von Beruf Beraterin eines Fernsehsenders. Während ihre Freundin um Hilfe rief, ging Barbara U. zu einem der Schläger: „Ich zieh’ ihn an der Schulter zurück – da sehe ich das Messer in seiner Hand.“ Der Mann stach zu, ihre Hand blutete, sie hatte Schmerzen – „dann schlendert der davon, so nach dem Motto „bloß keine Aufmerksamkeit“. Zwei Polizisten, gerade eingetroffen, nahmen den Messerstecher und seinen Kumpan fest. Barbara U. wurde per Rettungswagen zum Virchow-Krankenhaus gebracht – da gebe es einen „Handspezialisten“, habe der Sanitäter gesagt.

Barbara U. ist voll des Lobes über die Polizei, über die Rettungswagen-Besatzung, auch über die Notaufnahme, wo „recht viel los“ gewesen sei. Drei Stunden Behandlung, inklusive Kreislaufkollaps nach dem Schock, zwölf Stiche, Beratung über die Folgen des Angriffs, bis hin zu Infektionsrisiken. Barbara U. ist eine reflektierte Frau, sie beobachtet an sich, wie ihr Körper und ihre Seele diesen Angriff zu verarbeiten suchen. Sie hat registriert, dass ihre beiden Helfer von der Polizei in der Nacht noch mal anriefen, um zu hören, wie es ihr ging. Aber sie macht große Augen, als sie erzählt, dass die beiden Angreifer zu dem Zeitpunkt die Wache schon wieder verlassen hatten.

Diskussionen über Messerverbot

Als sie merkte, dass der Messer-Angriff Nachwirkungen hatte, habe sie beim „Weißen Ring“ angerufen, der Opferhilfe-Organisation. Sie sie dem Weißen Ring dankbar für die „tolle Unterstützung“, sagt Barbara U. Dessen ehrenamtliche Mitarbeiter hätten sie auf die „Trauma-Ambulanz“ aufmerksam gemacht und ihr eine Liste mit Anwälten gegeben, die sich mit Opferrecht auskennen. Das ist das Materielle. Barbara U. sagt über sich: „Ich bin normalerweise kein ängstlicher Mensch.“ Doch bei einer Busfahrt habe sie gemerkt, wie sie „alles abgescannt“ habe auf eine Gefahr für sich. „Das ist sehr ungewöhnlich für mich.“

Mehr als acht Jahre ist es her, dass in der Politik ein Messerverbot diskutiert worden ist. Seit 2008 gilt, dass einhändig zu bedienende Klappmesser sowie Messer mit feststehenden Klingen über zwölf Zentimeter Länge verboten sind. Erreicht hat das der damalige Innensenator Ehrhart Körting (SPD), nach einer Reihe von Verbrechen mit Messern. Über den Sinn solcher Verbote kann man streiten, über die Notwendigkeit neuer Debatten nicht. Auch Frank Henkel hatte zu Beginn seiner Amtszeit den Eindruck, Debatten über Gewalt anregen zu müssen. Henkel hat einen „Wertedialog“ begonnen; angesichts der zunehmenden Zahl schwerer Körperverletzungen wird man nicht sagen können, dass dieser Dialog schon Wirkung hatte.

Die Folgen: ein zerstörtes Schulterblatt

Olaf Böttcher hatte, wie Barbara U., das Gefühl, rasch handeln zu müssen. Böttcher macht nicht viele Worte, wenn er erzählt, wie er zu seiner Schulterverletzung gekommen ist. Im Mai 2014 zerrte der große, stattliche Mann, von Beruf Koch, abends in Reinickendorf einen jungen Mann von einer jungen Frau weg. Yildirim, 16, hatte im Streit seine Freundin zusammengeschlagen. Böttcher meinte, den Jungen beruhigt zu haben und ins Restaurant zurück zu können, als er einen Schlag auf den Rücken spürte: Yildirim hatte sich an ihn herangeschlichen und zugestochen.

Die Folgen: ein zerstörtes Schulterblatt, durchtrennte Muskeln, Berufsunfähigkeit, tausend Euro Schmerzensgeld, Rechtsstreitereien. Geholfen hat auch ihm der Weiße Ring, finanziell, dann beim „Behördenkrieg“, wie Böttcher sagt. 47 Jahre ist er alt. Würde der wieder helfen? „Wenn ich nicht überlegen müsste: ja“, sagt er. Und lässt ahnen, was er von der Justiz hält, wenn er das Urteil vorzeigt: Yildirim wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. „Für den“, sagt Böttcher, „läuft die Bewährung im Februar aus – mein Leben liegt in Scherben.“

Dieser Text ist Teil unserer Serie zur Berlin-Wahl 2016. In der letzten Folge ging es um das Thema Verkehr. Die nächsten Folgen: Integration, 13.8., Wirtschaft, 15.8., Ämter, 17.8., Demokratie, 19.8.

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