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Fünf Stationen fuhr die Schwiegermutter unserer Autorin mit der M2, vom Alexanderplatz bis zur Marienburger Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Von Tag zu Tag: Ein Weihnachtswunder

Die Schwiegermutter unserer Autorin verlor ihre Handtasche. Doch jetzt glaubt sie einmal mehr an das Gute im Menschen.

Die Tasche ist weg. Mit allen Papieren, Schlüsseln, Kreditkarten, dem Handy und dem Geld. Dem Geld für Kinder und Enkel zu Weihnachten. Gerade ist die 81-Jährige aus Leipzig angereist, im Koffer die Geschenke, den Rucksack auf dem Rücken und die Handtasche in der Hand. Doch als sie bei ihrem Sohn im Prenzlauer Berg ankommt, ist die Tasche weg. Kurz keimt die Hoffnung, sie könnte unten im Hausflur sein, abgestellt beim Verschnaufen nach der Reise. Doch dort ist nichts.

Die Großmutter ist verzweifelt, gibt sich die Schuld, überlegt und überlegt und sagt schließlich: „Ich habe sie in der Tram stehen lassen.“ Es handelt sich um die M2, die Fahrt ging vom Alexanderplatz bis zur Marienburger Straße, fünf Stationen. Der Anruf beim Fundbüro der BVG endet ernüchternd und mit einem Tipp: „Gehen Sie zu einem Fahrer der M2 und bitten Sie ihn, die Kollegen über Funk zu informieren.“ Während ich mich schon anziehe, hat der 18-jährige Enkel der Verzweifelten bereits drei Mal ihr Handy angerufen. Drei Mal hat er die Mailbox dran. Beim vierten Mal sagt eine männliche Stimme: „Hallo?“

Wir müssen dahin, was wird denn nun mit Weihnachten?

Nun geht alles ganz schnell. Es ist der Fahrer der Tram, in der meine Schwiegermutter die Tasche liegen ließ. Ein Fahrgast hat sie gefunden und abgegeben. Der Fahrer hat gerade Pause an der Endstation Alexanderplatz. „In sieben Minuten fahre ich los, ich habe die Nummer 4033, warten Sie an der Marienburger auf mich.“ Ich radele zur Haltestelle, hektisch, ich will unbedingt, dass das alles gut ausgeht. Vor meinem inneren Auge die Schreckensszenarien: Schlüssel und Geld weg, Papiere auch, in wenigen Stunden wird das Haus in Leipzig leer geräumt sein. Wir müssen dahin, was wird denn nun mit Weihnachten?

Viel zu früh bin ich an der Marienburger, gerade fährt Tram 4028 ein. Die schwarze Nummer, mit der jede Tram an der Außenseite unten beschriftet ist, habe ich bis heute nie wahrgenommen. Aber jetzt. Nach vier Minuten folgt die 4026. Kurz vor 18 Uhr nähert sich die nächste. Es ist die 4033. Der Fahrer gestikuliert in meine Richtung. Es ist UNSER Fahrer. Ich stecke den Kopf in den ersten Wagen, er öffnet die Fahrerkabine und hält mir die Tasche entgegen. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen.

„Haben Sie den Namen des Finders?“ Nein, sie wurde ihm einfach abgegeben. Dann will ich wenigstens ihm einen Finderlohn zahlen. Doch er darf nichts annehmen. So bleibt mir nur, ihm „Frohe Weihnachten“ zu wünschen. Den Rückweg radele ich so schnell wie hinzu. Wird alles in der Tasche sein? Meine Schwiegermutter kontrolliert den Inhalt, alles ist da. Wir haben unser Weihnachtswunder.

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