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Polizei und Rettungskräfte sind nach dem rechten Anschlag in Hanau im Stadtteil Heumarkt im Einsatz.

© Boris Rössler/dpa

Von Neuseeland bis Hanau: Eine Chronik des rechtsterroristischen Wahns

Der Anschlag in Hanau bestätigt die Befürchtungen der Sicherheitsbehörden. Sie warnen nach jedem Angriff vor noch härteren Nachahmern in „Egoshooter-Pose“.

Von Frank Jansen

Die Warnung kam vor einem Jahr und hat sich gleich mehrfach bestätigt. Am 16. März 2019, einen Tag nachdem beim Massaker des Australiers Brenton Tarrant in zwei Moscheen in Neuseeland 51 Menschen starben, sagt ein hochrangiger deutscher Sicherheitsexperte dem Tagesspiegel: „Die Egoshooter-Pose des Täters soll für die PC-Generation Anreiz sein, auch so zu handeln.“

Und derselbe Experte warnt jetzt wieder. Der Anschlag von Tobias Rathjen in Hanau „stachelt an, es wird Nachahmer geben“. In Deutschland und weltweit würden Rechtsextremisten „immer mehr aus der Ideologie heraus solche Taten begehen“.

Schon die Bilanz in der Bundesrepublik ist grausig. In der Nacht zum 2. Juni 2019 erschoss mutmaßlich der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Aus rassistischem Hass.

Lübcke hatte im Oktober 2015 bei einer Einwohnerversammlung im Kasseler Vorort Lohfelden sein Engagement für Flüchtlinge verteidigt. Als ihn rechte Krakeeler störten, darunter Stephan Ernst, sagte Lübcke, sie könnten das Land verlassen, sollten sie dessen Werte nicht vertreten. Dafür musste der CDU-Politiker knapp vier Jahre später sterben. Und seit dem Mord im Juni hat sich die Schlagzahl des rechtsextremen Terrors erhöht.

Lübcke, Wächtersbach, Halle: Anschläge in kurzen Abständen

Am 22. Juli schießt im hessischen Wächtersbach der rechte Waffensammler Roland Koch auf einen Eritreer. Aus rassistischem Hass. Der Afrikaner überlebt schwer verletzt. Koch erschießt sich wenige Stunden nach der Tat. Und wieder warnen die Sicherheitsbehörden. Zwei rassistisch motivierte Mordanschläge innerhalb von sieben Wochen seien ein deutliches Zeichen für eine erhöhte Nachahmergefahr, heißt es.

Polizisten vor einer Spielhalle in Hanau.
Polizisten vor einer Spielhalle in Hanau.

© REUTERS/Kai Pfaffenbach

Elf Wochen später bekommen die Experten zu ihrem Entsetzen wieder recht. Am 9. Oktober attackiert der Rechtsextremist Stephan Balliet in Halle die vollbesetzte Synagoge. Balliet versucht, die Tür zum Gotteshaus aufzuschießen. Im Gebäude bangen 51 Menschen jüdischen Glaubens um ihr Leben.

Wie Tarrant in den Moscheen in Christchurch überträgt Balliet seine Tat mit einer Helmkamera ins Internet. Balliet scheitert jedoch, die Tür hält stand. In seiner Wut tötet der Judenhasser zwei Passanten. Nach einer Verfolgungsjagd nimmt ihn die Polizei fest. Im Manifest zur Tat, gepostet im Internet, verkündet Balliet, „kill all jews“.

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Polizei und Verfassungsschutz befürchten nun noch mehr als zuvor Nachahmer aus der „PC-Generation“. Zu ihr zählt Tobias Rathjen. Der Mann postet im Internet Videos von sich mit wilden Reden. Vergangenen Freitag ruft er in einem Clip die US-Amerikaner auf, sie sollten sich gegen eine Geheimorganisation wehren, die in unterirdischen Militärbasen Kinder missbrauche und töte.

Am Mittwoch erschießt er in Hanau in zwei Shisha-Bars neun Menschen. Alle haben einen Migrationshintergrund. Dann fährt Rathjen nach Hause und tötet seine Mutter und sich selbst mit einer seiner zwei Waffen. Im Internet hinterlässt er ein Manifest, in dem er die Ausrottung ganzer Völker fordert. Rathjen nennt mehr als 20 Länder, von Marokko über Israel und die Türkei bis zu den Philippinen.

Ein Norweger tötet seine Stiefschwester asiatischen Ursprungs

Der hochrangige Sicherheitsexperte, der im März 2019 vor Nachahmern des Islamhassers Tarrant gewarnt hatte, klingt bei aller Professionalität fast schon verzweifelt: „Hanau ist jetzt noch eine Steigerung.“ Es gebe in den sozialen Netzen eine entgrenzte, rassistische Endzeitstimmung. Mit fatalen Folgen nicht nur in Deutschland.

Auf Tarrant folgt in den USA der Rassist Patrick Crusius. Er schießt am 3. August 2019 in El Paso in einem Supermarkt um sich und tötet 22 Menschen. Aus Hass auf Latinos. Auch Crusius hinterlässt ein Manifest, darin nennt er seinen Anschlag eine Antwort auf die „Hispanic Invasion of Texas“.

Eine Woche später dringt ein Islamhasser in Norwegen in eine Moschee ein. Philip Manshaus feuert in dem Gotteshaus im Osloer Vorort Baerum auf die wenigen dort betenden Muslime. Einer springt den Schützen an und überwältigt ihn. Als die Polizei die Wohnung von Manshaus durchsucht, findet sie die Leiche seiner 17-jährigen Stiefschwester. Sie war „asiatischen Ursprungs“ war, sagt ein Polizeisprecher. Und in den deutschen Sicherheitsbehörden wird wieder einmal gewarnt, diesmal vor Nachahmern der Attacken in Oslo und El Paso.

Nur fünf Tage vor dem Anschlag in Hanau lässt die Bundesanwaltschaft bei einer großen Razzia zwölf Rechtsextremisten festnehmen, die Anschläge auf Moscheen begehen wollten. Während der Gottesdienste. Mit dem Ziel, "bürgerkriegsähnliche Zustände" herbeizuführen, wie die Bundesanwaltschaft sagt.

Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Wahn, das von Juden gesteuerte Abendland werde von Migranten und Muslimen geflutet, verbreitet sich über das Internet weltweit. Und jeder Anschlag, sagen Sicherheitsexperten, wirke wie ein Fanal.

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