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Die AL mit Verkehrspolitiker Michael Cramer (Mitte) kämpfte schon in den 80ern für eine Mobilitätswende.

© Paul Glaser

Vom Pflänzchen zum Koalitionspartner: Die 80er sind bei den Grünen endgültig vorbei

Vor 40 Jahren wurde die Alternative Liste gegründet, der Grünen-Vorläufer in West-Berlin. Damals dachte niemand an den Einzug ins Parlament – oder ans Regieren.

Von Sabine Beikler

West-Berlin 1978: Öko-Bäckereien, Genossenschaften, Kiezgruppen und Bürgerinitiativen arbeiteten verstreut in der ganzen Stadt. West-Berlin: Das war der Inbegriff für ein Lebensgefühl, das gegen alte Normen aufbegehrte. Spontis und Autonome versammelten sich beim „Tunix“-Kongress. Es war die Zeit der Anti-Atomkraft-Demos, der Frauenbewegung, der Netzwerke und Bürgerinitiativen.

Als sich am 5. Oktober 1978 im Saal der Neuköllner „Neuen Welt“ in der Hasenheide 3000 Bürgerbewegte, Gewerkschafter, Spontis, linke Anwälte wie der spätere SPD-Bundesinnenminister Otto Schily und K-Gruppen-Aktivisten versammelten und die AL, die „Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz“, gründeten, dachte damals niemand an den baldigen Einzug ins Parlament. Und schon gar nicht ans Regieren. Vier Jahrzehnte später feierten die Grünen am vergangenen Freitag im Festsaal Kreuzberg 40 Jahre Alternative Liste und 25 Jahre Bündnis 90/Die Grünen.

Anfangs zählte die AL nur etwa 300 Mitglieder. Doch schon nach wenigen Monaten schaffte sie bei den Abgeordnetenhauswahlen 1979 den Sprung in vier Bezirksverordnetenversammlungen (BVV). Mit 3,7 Prozent blieb ihr der Weg ins Parlament zunächst versperrt. Zwei Jahre später aber, nach dem Sturz des rot-gelben Stobbe-Senats, zogen die „Igel“, wie sie sich nannten, mit 7,2 Prozent ins Abgeordnetenhaus ein.

„Na, dann mal los, Schätzchen“

Mit Fahrradeskorte und dem alten, mit der Igel-Standarte geschmückten BMW V8 von AL-Landeskassierer Volker Schröder fuhren die neun AL-Abgeordneten vors Rathaus Schöneberg. Die AL wollte den sozialen Bewegungen im Parlament Gehör verschaffen und auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen. Man diskutierte über Utopien, hatte mit der realen Umsetzung von Politik noch nicht viel im Sinn. Das Parlament war männlich dominant. Nicht vergessen sind sexistische Äußerungen von CDU-Hinterbänklern, die der AL-Abgeordneten Rita Kantemir beim Gang zum Mikrofon zuraunten: „Na, dann mal los, Schätzchen.“ Für diesen Spruch musste sich der damalige CDU-Fraktionschef Eberhard Diepgen förmlich entschuldigen.

Viele sahen die AL in der Gründungsphase als kurzlebige Einpunkt-Partei. Alt-Parteien sprachen ihr die Politikfähigkeit ab, der damalige SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel warnte die AL schelmisch vor der „Verparlamentarisierung“. Doch dagegen wappnet sich die AL auf ihre Weise: strikte Trennung von Amt und Mandat, Zwei-Jahres-Rotation mit Verbot des Hineinrotierens in andere Ämter, Einheitslohn für alle Mandatsträger und Mitarbeiter sowie Basisdemokratie.

Die beschworene Regierungsunfähigkeit der AL war nicht von Dauer: 1989 übernahm die AL unter Rot-Grün für eineinhalb Jahre die Regierungsverantwortung, 2001 durfte sie nach dem Scheitern der großen Koalition in der rot-grünen Übergangsregierung auch kurz mitregieren. Und nach 15 Jahren Arbeit in der Opposition regieren die Berliner Grünen nun seit 2016 unter Rot-Rot-Grün mit.

Der anfängliche Dogmatismus schwand

In den 1980er Jahren lernte die Vorgänger-Partei AL schnell dazu: Vom anfänglichen Dogmatismus distanzierte sie sich rasch und zeigte sich sogar vereinigungsfähig. Nach der Verschmelzung mit jenem Teil der DDR-Bürgerbewegung, der unter „Bündnis 90“ firmierte, wurden 1993 aus der AL die Bündnisgrünen.

Grünen-Fraktionschefin Antje Kapek, 1976 geboren, erinnert sich, wie ihr alleinerziehender Vater Frank Kapek von 1987 bis 1989 im Parlament als AL-Politiker rotierte. „Das war eine spannende Zeit mit vielen Demos, bei denen mich mein Vater zum Schutz unter VW-Busse gerollt hat.“ Den Straßenkampf habe sie „von der Pike auf gelernt“, erzählt die 42-Jährige. Kapek trat 2005 bei den Grünen ein, arbeitete in der Kreuzberger BVV. 2011 zog sie ins Parlament und wurde 2012 Fraktionschefin in Doppelspitze.

"Die Grünen sind in Bewegung"

Ging vor 40 Jahren noch ein Aufschrei durch die Gesellschaft bei den Themen Tempo 30 oder Fahrverbot, ist der Grundkonsens heute ein anderer: Das Verständnis für eine Mobilitätswende und Maßnahmen für saubere Luft in den Städten überwiegt. Manche Themen haben sich auch nicht geändert: Hausbesetzer okkupierten in den 1980er Jahren bis zu 165 Häuser in West-Berlin und kämpften gegen Kahlschlagsanierung, den systematischen Abriss von Altbauten und Mietsteigerungen durch Luxusrenovierungen. „Auch heute kämpfen wir gegen teure Mieten und für eine gerechte Verteilung der städtischen Flächen“, sagt Kapek. Worin sieht sie das Erbe der AL für ihre Partei? „Die Grünen sind in Bewegung. Wir sind angetreten, um etwas zu verändern. Wir kämpfen für lebenswerte Kieze, für Emanzipation, für ein Miteinander von Menschen, egal ob arm oder reich, unabhängig von ihrer Religion.“

Flügelkämpfe zwischen Realos und Fundis, die die Partei fast zerrieben haben, sind einem harmonischen Miteinander gewichen. Die Berliner Grünen wollen gestalten und zeigen, dass sie regieren können. Auf Augenhöhe legen sie in der Koalition größten Wert. Endgültig vorbei sind die 80er Jahre: Als letzter Kreisverband strichen 2017 die Spandauer Grünen die „Alternative Liste“ aus dem Namen und nennen sich seitdem „Bündnis 90/Die Grünen Spandau“.

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