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Miller recherchierte Namen und Schicksale im Berliner Gedenkbuch.

© Thilo Rückeis

Virtuelle Gedenkstätte: Die Verschwundenen von Berlin

Zunächst wollte Roderick Miller nur wissen, wer früher in seinem Haus in Neukölln lebte. Schließlich rekonstruierte er die Geschichten von Nazi-Opfern in der ganzen Stadt.

Wer heute durch die Hobrechtstraße in Neukölln spaziert, läuft an renovierten Altbaufassaden, Cafés, Bars und Galerien vorbei. Auf dem gepflasterten Bürgersteig vor der Hobrechtstraße 57 glänzen elf Messingplatten wie frisch poliert. Die knapp zehn mal zehn Zentimeter großen Stolpersteine erinnern an Menschen, die einst durch die gleiche Straße, an den gleichen Häusern vorbeiliefen.

Jetzt sind die Tafeln ihre letzten Spuren. Ein paar Häuser weiter, in der Hobrechtstraße 22, erinnern zwei weitere Steine an Frieda und Gustav Jacobson.

Doch die 13 Namen sind nicht die einzigen, die das NS-Regime brutal aus der Nachbarschaft löschen wollte. Wenn allen Opfern des Nationalsozialismus gedacht werden sollte, fehlten allein in der Hobrechtstraße mindestens 78 weitere Messingtafeln.

„Von den theoretisch möglichen Stolpersteinen ist vielleicht einer von tausend verlegt“, sagt Roderick Miller, Hobbyhistoriker und Vorstandsvorsitzender vom Verein Tracing the Past. „Deswegen dachte ich mir, dass eine Art Online-Stolperstein sehr praktisch wäre, als virtuelle Gedenkstätte.“

Auf der virtuellen Karte „Mapping the Lives“ haben er und seine Mitstreiter daher Straße für Straße, Haus für Haus die Opfer des Nazi-Regimes dokumentiert. Mit der Karte auf dem Handy kann man nun durch die Stadt laufen und die Namen derer lesen, die hier einst lebten.

Wenn man Biografien mit dem eigenen Haus verbinden kann, entsteht eine Verbindung über die Zeit hinweg

Wenige Häuser von der Hobrechtstraße 57 entfernt liegt die Hausnummer 67, ein Stuckaltbau mit grau-beiger Fassade, die selbst aus der Zeit gefallen wirkt. Viele Schmierereien zieren das Erdgeschoss. Jemand hat „For Sale“ an die Hauswand gesprayt. Hier wohnte Erna Schmerl. Sie wurde 1943 ins estnische Raasiku deportiert und dort ermordet.

Auf der anderen Straßenseite, ein frisch sanierter Altbau, schwarz-weiße Fassade, Hausnummer 25. Hier wohnten Erwin und Frieda Seemann. Er starb 1941 in Sachsenhausen, sie 1943 in Theresienstadt.

Miller zog 2006 in die Hobrechtstraße. Er wollte herausfinden, welche Menschen einst in demselben Haus gelebt, geliebt, gelacht hatten. „Ich dachte, das sollte ziemlich einfach sein“, sagt er – war es aber nicht. Über das Gedenkbuch Berlin fand er schließlich erste Anhaltspunkte.

Spuren der Vergangenheit: Ein Stolperstein wird im Dezember 2017 in Neukölln verlegt.
Spuren der Vergangenheit: Ein Stolperstein wird im Dezember 2017 in Neukölln verlegt.

© Paul Zinken/dpa

Die Suche nach der Geschichte seines Wohnhauses wurde schnell zur Suche nach der Geschichte der ganzen Stadt. Miller, eigentlich Musiker, Grafiker und Journalist, arbeitete sich akribisch in die Biografien der Menschen ein, erlernte autodidaktisch Software und Scripte für den Umgang mit Datenbanken. Wie andere Menschen sich in Romanwelten verlieren, verlor Miller sich in der realen Geschichte. 2014 gründete er gemeinsam mit Archivaren und Historikern den Verein Tracing the Past.

Wie kommt es, dass jemand seine Freizeit für die Suche verschwundener Menschen aufbringt, sich durch Datenbanken wühlt und Listen abgleicht? „Ich bin geborener Amerikaner und finde die Geschichte von Europa, die Geschichte der NS-Zeit, aber auch die Geschichte von Berlin überhaupt sehr interessant“, sagt Miller.

Die Stadt habe eine viel ältere Vergangenheit als die meisten Städte in den USA. Die Hobrechtstraße, aber auch viele anderen Straßen in Berlin, existieren immer noch mit fast den gleichen Häusern. „Man hat manchmal so ein Gefühl – ich meine, das ist die gleiche Stadt, bloß die Menschen die jetzt hier wohnen sind anders“, sagt er.

Die Daten für die Online-Karte stammen aus einer Volkszählung von 1939

Wenn man einzelne Biografien mit dem eigenen Haus oder der eigenen Straße verbinden kann, entsteht plötzlich eine Verbindung über die Zeit hinweg. Plötzlich kann man erahnen, wie es gewesen sein könnte, als diese Menschen durch die gleichen Straßen liefen. Plötzlich wird das Schicksal fassbar.

Die Daten für die Online-Karte stammen aus einer Volkszählung von 1939. Damals mussten die Menschen angeben, ob sie jüdische Großeltern hatten oder nicht. Diejenigen, die „Ja“ ankreuzten, wurden in einer Extrakartei gesammelt. Diese Daten, rund 410.000 Namen, glich Miller mit der sogenannten Residentenliste ab.

Roderick Miller erstellt bei dem Projekt "Mapping the Lives" interaktive Karten davon, wo in Berlin Jüdinnen und Juden deportiert und vertrieben wurden.
Roderick Miller erstellt bei dem Projekt "Mapping the Lives" interaktive Karten davon, wo in Berlin Jüdinnen und Juden deportiert und vertrieben wurden.

© Thilo Rückeis

In der Liste sind alle rund 600.000 Menschen jüdischer Herkunft dokumentiert, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gelebt haben und wegen ihrer Religion oder Abstammung verfolgt wurden. Sie enthält Angaben zu Migration, Inhaftierungen, Suiziden, Deportationen und Tötungen. Auch Informationen aus Gedenkbüchern flossen in die Onlinekarte ein.

„Irgendwie hat diese Geschichte aber auch Verbindungen zu mir selbst“, sagt Miller. 1977 kam er das erste Mal nach Deutschland, seine Mutter war Lehrerin für die Kinder hier stationierter amerikanischer Soldaten. Mittlerweile haben sich die Spuren in sein Leben eingebrannt.

„Es gibt Tausende tragische Geschichten, ich komme kaum klar damit“, sagt Miller. Andererseits gibt es aber auch die Geschichten jener, die überlebt haben – und der vielen Menschen, die ihnen trotz des hohen persönlichen Risikos beim Überleben geholfen haben.

Gert floh über Jugoslawien und Palästina nach Kanada. Er überlebte

Auch für sein Haus in der Hobrechtstraße hat Miller mittlerweile die Biografien von drei Bewohnern recherchiert: Alfred, Wilma und ihr Sohn Gert Kahan. Alfred wurde 1940 nach Dachau deportiert, wo er noch im selben Jahr an den Folgen der Haft verstarb. Wilma wurde 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie vermutlich bei ihrer Ankunft ermordet wurde.

Gert floh über Jugoslawien und Palästina nach Kanada. Er überlebte. „Seine Spuren in Kanada habe ich noch nicht gefunden“, sagt Miller. Er werde jetzt erst mal drei Stolpersteine beantragen. Dann sind die Schicksale von Alfred, Wilma und Gert auch im realen Straßenbild sichtbar. Und in der Hobrechtstraße fehlen nur noch 75 Messingtafeln.
Mehr Infos: www.mappingthelives.org und www.tracingthepast.org

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