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Folgen eines Verbrechens: Massive Poller schützen den Breitscheidplatz.

© Imago/Stefan Zeitz

Vier Jahre Berliner Breitscheidplatz-Anschlag: Von Fussilet bis Opalgrün – die offenen Fragen der Amri-Ermittlungen

Gab es Mitwisser? Woher hatte Anis Amri die Waffe? 52 Mal tagte der Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz – und deckte viele Pannen auf.

Von Sabine Beikler

Der Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz, der sich am 19. Dezember zum vierten Mal jährt, hat Sicherheitsdebatten in Deutschland ausgelöst und viele Fragen aufgeworfen. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse im Landtag von Nordrhein-Westfalen, im Bundestag und im Abgeordnetenhaus arbeiten seit 2017 die Pannen, das Behördenversagen und die Fehleinschätzungen beim späteren Attentäter Anis Amri auf.

Rund 100 Ausschusssitzungen hat Astrid Passin verfolgt. Die Berlinerin ist Sprecherin der Opferangehörigen und Betroffenen des Anschlags vom Breitscheidplatz, bei dem zwölf Menschen ermordet wurden. Sie fordert ein „gesetzlich verankertes Aktenmoratorium. Keine Akte darf vernichtet werden, wenn die Ausschüsse ihre Arbeit beendet haben“, sagte sie dem Tagesspiegel. Viele Fragen seien noch nicht geklärt.

52 Mal tagte der Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus seit seiner Einsetzung im Juli 2017. In diesem Jahr hörten die Parlamentarier unter anderem Zeugen aus der Justiz, dem LKA, Verfassungsschutz, Politiker und Kriminalbeamte, die am Tatort waren.

Gerade die Ereignisse nach dem Anschlag, warum zum Beispiel Ermittler erst am nächsten Tag die Meldebescheinigung des Attentäters in der Kabine des Lkw fanden, sind für viele Hinterbliebene und Opfer wichtig für ihre persönliche Aufarbeitung.

Amri wird wohl als Einzeltäter diesen Anschlag durchgeführt haben, im juristischen Sinn war er es nicht, da er mit seinem Mentor „Mouadh Tounsi“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ Monate vor der Tat kommunizierte. Er traf am Abend zuvor und am Tattag bekannte Salafisten, unter anderem in der inzwischen verbotenen Fussilet-Moschee in Moabit. Was er dort genau besprochen hatte, ist weiterhin ungeklärt.

Woher Anis Amri die Waffe hatte, bleibt unklar

Gab es Mitwisser? Diese Frage ist bis heute nicht abschließend geklärt. Von wem er die Waffe erhalten hatte, mit der er den polnischen Lkw-Fahrer ermordete, ist ebenfalls noch nicht beantwortet.

Die Bundesanwaltschaft schließt nicht aus, dass in dem Salafisten-Treffpunkt Fussilet-Moschee möglicherweise eine Waffe „gebunkert“ wurde. Amri hielt sich dort am Tattag von 18.37 bis 19.07 Uhr auf und hat sich nach Tagesspiegel-Informationen möglicherweise mit dem damals bekannten Gefährder Habib S. getroffen.

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Der Ausschuss befragte im April LKA- und Polizeibeamte, die als Tatort-Sachbearbeiter nach dem Anschlag um 20.02 Uhr vor Ort waren. Ein Zeuge soll auch beobachtet haben, dass sich eine andere Person außer Amri vom Lkw entfernt haben soll.

Späte Fahndung, ungesicherter Lkw

Durch eine Verkettung technischer Probleme kam der Lkw zur weiteren Spurensicherung erst Stunden später in der Julius-Leber-Kaserne an. Nach dem Anschlag dauerte es 19 Stunden, bis die Duldungspapiere von Amri in der Kabine gefunden wurden. Und erst kurz nach Mitternacht, am 21. Dezember 2016, wurde eine bundesweite, dann auch europaweite Fahndung nach Amri ausgelöst.

Der Riss: Das Mahnmal am Breitscheidplatz.
Der Riss: Das Mahnmal am Breitscheidplatz.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Von Amri wurden zwei Handys gefunden: eines auf dem Boden des Führerhauses, das andere klemmte im Kühlergrill. Wie das Handy, mit dem der Attentäter auf der Fahrt zum Breitscheidplatz mit seinem Mentor „Mouadh Tounsi“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“ kommuniziert hatte, dorthin gekommen war, ist bis heute nicht geklärt. Nachdem der tote Lkw-Fahrer Lukacz Urban geborgen wurde, war der Lkw drei Stunden lang bis zum Erscheinen der Tatortgruppe der Polizei gegen 23 Uhr nicht gesichert.

Schlampereien beim Verfassungsschutz

Eine der wichtigsten Fragen, die sich durch alle Untersuchungsausschüsse ziehen, betrifft die Rolle des Verfassungsschutzes. Nach diversen Aussagen, unter anderem von Innenstaatssekretär Torsten Akmann, ist klar, dass Amri kein reiner „Polizeifall“ war.

Auch der Verfassungsschutz hätte ihn im Rahmen seiner Ermittlungen beobachten können. Amri war Gegenstand verschiedener Überwachungs- und Ermittlungsinstrumente von Staatsanwaltschaft, Polizei und Verfassungsschutzämtern. Aber es wurden Informationen zum Teil nicht ausgewertet, gar nicht weitergegeben oder für weitere Maßnahmen genutzt.

Immerhin gab es Fotos von Amri im Zusammenhang mit salafistischen Schulungen in der Fussilet-Moschee vom April 2016. Gefunden wurden sie erst drei Monate nach dem Anschlag neben einem Panzerschrank im Büro einer dauererkrankten Verfassungsschützerin.

Hatte Amri Kontakt mit inzwischen verurteilten Islamisten?

Viele Fragen sind noch ungeklärt, zum Beispiel der Vorgang „Opalgrün“ beim Verfassungsschutz, der sich mit einem geplanten Anschlag von 2016 befasst. Hatte Amri Kontakt mit inzwischen verurteilten Islamisten?

Grünen-Politiker Benedikt Lux, Linken-Politiker Niklas Schrader und FDP-Ausschussmitglied Stefan Förster wollen dazu noch Zeugen hören. SPD-Innenpolitiker Frank Zimmermann dagegen sieht bei Opalgrün „keine belastbaren Hinweise darauf, dass das unseren Untersuchungsauftrag betrifft“.

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Einig sind sich Koalitions-Innenpolitiker und Förster darin, dass operative Maßnahmen des Verfassungsschutzes wie bei der Beobachtung der Fussilet-Moschee im Abschlussbericht „möglichst transparent“ dargestellt werden, sagte Lux. Zimmermann ergänzt, dass dies wegen vieler sensibler Informationen letztlich die Innenverwaltung entscheiden müsse.

Im Mai soll der Abschlussbericht vorgelegt werden

FDP-Politiker Förster und AfD-Innenpolitiker Karsten Woldeit sehen die Frage noch nicht geklärt, ob Amri tatsächlich allein die Tat ausgeführt hatte, und ob sich noch jemand anderes außer Amri und Urban im Führerhaus des Lkw aufgehalten hatte. Und wie das Handy in den Kühlergrill kam, sei weiter schleierhaft, sagt Woldeit.

Der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU) betont, dass sich inzwischen Behördenstrukturen, wie im LKA mit der neuen Abteilung 8 islamistischer Extremismus, geändert hätten. Die Informationen seien transparenter, eine „neue Kultur“ bei Verfassungsschutz und Polizei etabliert worden. Die Gefährderbearbeitung laufe wesentlich koordinierter.

Im Mai will der Ausschuss seinen Abschlussbericht vorlegen. Astrid Passin schlägt ein Treffen unter anderem mit mit Vertretern der Polizei vor, die „uns Hinterbliebenen im Nachgang schildern, was genau nach dem Anschlag falsch gelaufen ist. Dann hätten wir mehr Klarheit und innere Ruhe“.

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