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Michael Bittner und seine Mutter Irmgard in den 80er Jahren.

© privat

Verschwundene Mauertote: Bis heute sucht eine Frau die Asche ihres Sohnes

Die Kugeln trafen ihn, als seine Hände schon die Mauerkrone umfassten. Michael Bittner starb vor 30 Jahren – und bis heute weiß seine Mutter nicht, wo ihr Kind verscharrt wurde.

Von Andreas Austilat

Sogar ans Auswandern hat Irmgard Bittner einmal gedacht. Das war im Spanienurlaub vor ein paar Jahren. „Aber wie viele Gärten kann man denn haben im Leben?“, fragt sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Stattdessen schaut sie aus dem Verandafenster, raus zu den beiden Tannen links und rechts der Pforte.

Nein, diesen hier in Berlin-Rosenthal hätte sie nie aufgegeben. Schon wegen der Blautanne rechts vom Eingang nicht. Die hat ihr Michael vor 30 Jahren im Topf mit nach Hause gebracht. „So klein war die“, sagt Irmgard Bittner, sie hält ihre flache Hand neben den Tisch mit der geblümten Plastikdecke. Ein halbes Jahr, nachdem er die Tanne eingepflanzt hatte, war ihr Sohn tot.

Heute überragt der Baum das Haus bei Weitem, und Irmgard Bittner denkt erst recht nicht mehr ans Wegziehen. Sie ist auch nicht gut zu Fuß, ein Nerv im Knie macht ihr zu schaffen. Doch ihr Gang ist trotz ihrer inzwischen 80 Jahre so aufrecht wie einst. Und eine gewisse Weltläufigkeit ist ihr geblieben, die Fähigkeit zur Anteilnahme am Schicksal anderer, ein Interesse an den Dingen, die da draußen geschehen. Im Mittelmeer zum Beispiel: „Da sterben tausende Flüchtlinge, und irgendwo gibt es auch Mütter, die sie beweinen, die nie erfahren werden, wo ihr Grab ist.“ So wie sie selbst weint, weil sie fürchten muss, in ihrem Leben nicht mehr zu erfahren, wo ihr Sohn begraben ist.

Michael Bittner war ein Flüchtling, und er starb mit 25 Jahren. Nur wenige Kilometer vom Haus seiner Mutter entfernt, jenem Haus, das der gelernte Maurer selbst ausgebaut hatte. Nach so vielen Jahren des Schweigens stehen die Chancen schlecht, dass sich noch einer erbarmt. Einer, der Bescheid weiß und Irmgard Bittner die Wahrheit sagt. Der ihr erzählt, was sie an jenem 24. November 1986 mit dem Sohn gemacht haben – und wo sie ihn verscharrten.

Zumindest Klaus Rocke erinnert sich genau. An das trockene Knallen einzelner Schüsse und das Rattern eines Feuerstoßes aus einer Maschinenpistole, „das vergessen Sie nicht“, sagt er. Schon gar nicht, wenn das alles in dunkler Nacht vor der eigenen Haustür passiert. Rocke ist heute 73 und in Rente. Am 24. November 1986 um 1.30 Uhr war er 43 und stand als Ingenieur mitten im Berufsleben. Schon damals wohnte er in dem spitzgiebligen Siedlerhaus an der Oranienburger Chaussee, am Rande Frohnaus, im damaligen West-Berlin.

Die Chaussee war in jenen Jahren unpassierbar, denn dort, wo heute der Bordstein des westlichen Straßenrands liegt, ragte damals die Mauer drei Meter empor. Die Straße dahinter war mit weißem Sand bedeckt, damit sich Spuren besser abzeichneten, falls es doch einmal jemand hierhin schaffen sollte. Drüben, wo sich heute eine Filiale von McDonald’s befindet, stand eine weitere, die sogenannte Hinterlandmauer. Mit dem Zaun auf ihrer oberen Krone war auch sie drei Meter hoch.

Sie kamen aus dem Ägypten-Urlaub

Für Rocke und seine Frau endete an diesem Tag ihr Ägypten-Urlaub, spätabends waren sie in Schönefeld gelandet. Der Flughafen lag auf dem Territorium der DDR, doch für West-Berliner Passagiere war das Passieren der Grenze zwischen Ost und West möglich, wenn auch mit bürokratischen Hürden verbunden.

Das Taxi brachte die Rockes zu ihrem Haus und wendete. Dahinter ging die Zufahrt in einen schmalen Postenweg über, zugänglich für die Jeeps der französischen Feldgendarmerie. Frohnau gehörte 1986 zum französischen Sektor West-Berlins, die Soldaten kamen gelegentlich, um mal einen Blick über die Sperranlagen zu werfen, hinüber nach Glienicke/Nordbahn.

Nach Ägypten wäre Michael Bittner vielleicht auch gerne mal gereist. Aber nachdem er am 2. April 1984 einen Antrag auf Ausbürgerung aus der DDR gestellt hatte, ließen sie ihn nicht einmal mehr ins befreundete Bulgarien, wie er am 14. Mai 1986 beim Besuch des Amts für Genehmigungsangelegenheiten im Stadtbezirk Pankow beklagte. Alle halbe Jahre bestellten sie ihn dorthin, um zu fragen, ob er immer noch ausreisen wolle. „Ist unzufrieden mit den polit. Verhältnissen in der DDR, ist gegen die Raketenstationierung in der DDR, will Reisefreiheit“, protokollierte der Beamte im Dienst der Stasi. Der Antrag wurde erneut abgelehnt. Kurz wurde der Ton scharf, als Bittner sagte, dann müsse er sich etwas anderes überlegen. „Wie meinen Sie das?“, fragte der Beamte. Und bestellte ihn für den 26. November 1986 erneut ein. Ein Tag, den Bittner nicht mehr erlebte.

Als die Rockes an jenem Abend aus ihrem Taxi stiegen, hörten sie drüben Rufe, dann Schüsse. Frau Rocke glaubte sogar, Hände auf der Mauerkrone gesehen zu haben, sie schrie. Anwohner aus dem benachbarten Mehrfamilienhaus kamen auf die Straße, die West-Berliner Polizei wurde alarmiert, sie traf gegen 1.45 Uhr ein, ebenso die französische Feldgendarmerie.

Die Hände, falls sie denn wirklich zu sehen waren, müssen Michael Bittner gehört haben. Denn dass er es war, der hier die Flucht versuchte, wenigstens in diesem Punkt darf man der Akte, die die Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit noch in derselben Nacht anlegte, wohl trauen. In vielen anderen Punkten jedoch wurde gelogen und betrogen, vertuscht und verschleiert. Standhaft behaupteten sie später im Ost-Berliner Polizeipräsidium, Bittner sei tatsächlich in den Westen gelangt. „Er wird beschuldigt, landesverräterische Agententätigkeit und einen ungesetzlichen Grenzübertritt begangen zu haben“, heißt es im Haftbefehl, den das Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte am 4. Dezember 1986 erließ: Bittner habe sich ausschleusen lassen, von einer kriminellen Menschenhändlerbande aus dem Westen.

Mit einer Leiter näherte er sich der Mauer

Tatsächlich hatte sich der 25-Jährige eine Holzleiter aus zwei Teilen zusammengenagelt. Mit der näherte er sich im Dunkel der Nacht an jenem für ihn fatalen 24. November der Hinterlandmauer. Um 1.19 Uhr nahm er diese Hürde. Die Stelle war gut gewählt, der Streifen zwischen beiden Grenzbefestigungen war hier ungewöhnlich schmal.

Was Bittner nicht wusste: Nur drei Tage zuvor waren die beiden Ost-Berliner Manfred Mäder und René Groß erschossen worden, als sie versucht hatten, mit einem Lkw die Grenze zwischen Treptow und Neukölln zu durchbrechen. Und im Sicherungsabschnitt, den Bittner gewählt hatte, war bereits zwei Wochen vorher, am 12. November, ein „Grenzdurchbruch“ erfolgt, wie es in den Akten heißt. Zusätzliche Posten standen nun hier.

Irgendwie musste Bittner seine Leiter auf die andere Seite bekommen. Beim Balancieren auf der Mauerkrone berührte er den Signaldraht. Die Rundumleuchte flammte auf, gleichzeitig ertönte ein Alarmton. Bittner zog die Leiter mit sich und rannte los. Er hatte knapp 20 Meter vor sich bis zur zweiten Mauer.

240 Meter weiter bemerkten ihn die beiden Grenzsoldaten Hartmut B. und Olaf N. Letzterer war 30 Jahre alt und als Reservist für sechs Wochen einberufen worden, sein 20-jähriger Kollege leistete seit einem Jahr seinen Wehrdienst ab, er war der Postenführer. Noch am selben Tag wurde der ältere Hartmut B. durch die Hauptverwaltung I der Stasi befragt. Das Protokoll fiel etwas holprig aus: „Ich und mein Posten bewegten uns im Laufschritt in Richtung, dabei luden wir unsere Waffen und ich tätigte zweimal den Zuruf und Warnschuß Dauerfeuer. Der Grenzverletzer war aber in der Zeit schon feindwärts des 1. KS, so daß ich nur noch als letzte Möglichkeit die Anwendung der Schußwaffe zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs sah.“ Beide Posten schossen kniend, Hartmut B. gab dabei einen Feuerstoß ab, „in der Aufregung hatte ich Dauerfeuer eingestellt“.

„Kennen Sie sich mit der Kalaschnikow aus?“, fragt 30 Jahre später Bernhard Jahntz, auf einem Bürostuhl sitzend. Jahntz war in den 90er Jahren Abteilungsleiter der Berliner Staatsanwaltschaft II und zuständig für die Strafverfolgung der politischen Führung der DDR. Viele Grenzsoldaten, sagt er, hätten in den Mauerschützenprozessen damals ausgesagt, dass sie in der Aufregung nur aus Versehen auf Dauerfeuer geschaltet hatten. Doch bei der Kalaschnikow sei es so, dass der Sperrhebel in der oberen Stellung die Waffe sichere, in der Mitte Dauerfeuer freigebe und unten auf Einzelfeuer schalte. Drücke man den Hebel also aus Versehen komplett durch, lande man nicht bei Dauer-, sondern bei Einzelfeuer.

Hartmut B. gab 24 Schuss ab, Olaf N. acht im Einzelfeuer. Bittner hatte, als ihn zwei Kugeln in den Rücken trafen, auf seiner Leiter die vierte oder fünfte von 13 Stufen erreicht, er könnte also tatsächlich bereits die Hände an der Mauerkrone gehabt haben, wie es mehrere West-Berliner Zeugen später aussagten. Rückwärts fiel er von der Leiter. Kurz darauf fuhren zwei andere Soldaten mit einem Kübelwagen vom Typ Trabant vor. Sie schleiften Bittner durch den Sand zum Fahrzeug und brachten ihn weg.

Jahre später bekam Irmgard Bittner eine mysteriöse Postkarte zugestellt, ohne Absender. Sie hat sie weggeworfen, erinnert sich aber noch an einen Satz. Die Autopolster hätten damals ausgetauscht werden müssen, so sehr habe ihr Sohn im Wagen alles vollgeblutet, behauptete der anonyme Schreiber.

"Leichenvorgänge" nannten sie die Mauermorde bei der Stasi

Irmgard Bittner beim Besuch des Krematoriums Baumschulenweg.
Irmgard Bittner beim Besuch des Krematoriums Baumschulenweg.

© Kitty Kleist-Heinrich

Gegen 1.50 Uhr stellte der Regimentsarzt Michael Bittners Tod fest. Eine Kugel hatte den Herzmuskel zerrissen, die andere die Leber, jeder Treffer für sich wäre tödlich gewesen. Um 4.45 Uhr wurde der Leichnam zur Obduktion in die Militärmedizinische Akademie nach Bad Saarow gebracht. Staatsanwalt Bernhard Jahntz hatte Jahre später das Obduktionsbuch in der Hand und musste feststellen, dass Bittner dort nicht auftauchte. Die Seite vom 24. November war ebenso herausgetrennt wie die vom 21. November, dem Todestag von Mäder und Groß, den beiden Maueropfern, die wenige Tage vor Bittner erschossen wurden.

Noch in der Nacht wurde von der Staatssicherheit eine Nachrichtensperre verhängt. Jeder, der irgendwie in den Fall involviert war, sei er Angehöriger der Grenztruppen oder des medizinischen Personals, musste eine Schweigeverpflichtung unterschreiben, sogar die Telefonzelle nahe der Nohlstraße in unmittelbarer Nähe des Tatorts wurde gesperrt. Es verschwanden der Totenschein, das Obduktionsergebnis und schließlich auch Michael Bittners Leiche.

„Das Schlimmste war doch, dass ich keine Ahnung hatte, wo er geblieben war“, sagt Irmgard Bittner heute in ihrer Veranda, einen Bilderrahmen in den Händen. Normalerweise steht der in einer Vitrine in ihrer guten Stube, geschmückt mit Lichterkette und Kerzen. Im Rahmen stecken die Fotos ihrer drei Söhne. Gerd, der älteste, starb vor drei Jahren, Mario, der jüngste, in diesem Mai, beide nach schwerer Krankheit. Und Michael. Was hat sie sich alles ausgemalt damals. Dass er vielleicht irgendwo in einem Krankenhaus liegt, hilflos, blind, gelähmt. Von seinem Ausreisewunsch wusste sie, nicht aber von konkreten Fluchtplänen. Dass er wirklich wortlos im Westen untergetaucht war, wie sie es im Polizeipräsidium in der Keibelstraße behaupteten, das konnte sie sich nicht vorstellen.

Was aus heutiger Sicht unglaublich anmutet, war damals nur folgerichtig. Die Vertreter der Staatssicherheit der DDR folgten einem Plan, der immer wieder variiert, aber konsequent bis ins Jahr 1989 angewendet wurde. Wie Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Maria Nooke von der Gedenkstätte Berliner Mauer in einem Essay zu ihrem Handbuch „Die Todesopfer an der Berliner Mauer“ darlegen, wusste die SED-Führung nur zu gut, dass Gewalttaten an der Mauer auf West-Berliner Seite polizeilich registriert und von der Staatsanwaltschaft bearbeitet wurden – auch hinsichtlich einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung. Hinzu kam der beträchtliche internationale Imageschaden, den jeder bekannt gewordene Mauertote nach sich zog.

Die Opfer landeten anonym in einem Reihengrab

Im Fall Bittner hält Hertle es für möglich, dass die DDR-Behörden wegen der bevorstehenden 750-Jahr-Feier Berlins besonders auf Geheimhaltung bedacht waren. Tatsächlich heißt es im Abschlussbericht zur sogenannten „OPK Morgentau“ vom 25. Juli 1988: „Die politische Sensibilität der Staatsgrenze zu Berlin (West) machte die Verschleierung des Vorkommnisses notwendig. Es musste verhindert werden, dass Gerüchte über das Vorkommnis in Umlauf geraten bzw. dass Informationen dazu nach WB oder BRD abfließen.“ Wie solch eine Verschleierung abzulaufen hatte, darüber gibt eine ganze Reihe damals geheimer MfS-Akten Aufschluss, die heute im Bundesamt für die Stasi-Unterlagen eingesehen werden können. Demnach war die Bearbeitung bei „Leichenvorgängen“ immer der Hauptabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit zu übertragen, „um die weitgehende Einhaltung der Konspiration über solche Vorkommnisse zu gewährleisten“. Für den Transport kamen nur Armeefahrzeuge infrage, keine zivilen Krankenwagen, was möglicherweise für manchen Schwerverletzten tödlich war. Zur Behandlung durften nur ausgewählte Krankenhäuser der Armee oder Volkspolizei, zur Obduktion nur das Institut der Gerichtsmedizin der Charité oder die Militärmedizinische Akademie in Bad Saarow angesteuert werden. Totenscheine und Obduktionsberichte waren sofort Verschlusssache.

Die Obduktion hatten ausgewählte Ärzte vorzunehmen, für die Sterbeurkunde war eine ganz bestimmte Genossin im Standesamt Mitte aufzusuchen, das Gleiche galt für die Einäscherung. Christian Booß, Forschungsprojektleiter bei der Stasi-Unterlagenbehörde, bestätigt, dass das Krematorium Baumschulenweg bei den Vertuschungsmanövern der Stasi grundsätzlich eine zentrale Rolle spielte. Häufig wurde den Verwandten die Leiche nicht gezeigt. „Man wird in solchen Fällen sagen, dass die Angehörigen den Verstorbenen so in Erinnerung halten sollen, wie sie ihn zu Lebzeiten kannten“, heißt es ausdrücklich in der Anordnung der Stasi. Der Nachlass sollte den Hinterbliebenen gegen Quittung ausgehändigt werden, „soweit keine Blutverschmutzung vorliegt“. Die Urne durfte überstellt werden. Wurde sie nicht angefordert, hatte die Bestattung in einem Reihengrab auf dem Friedhof Baumschulenweg zu erfolgen.

Zum Prozedere gehörte auch, dass unverzüglich das Umfeld des Flüchtlings auszuforschen war. Für den Stasi-Mann vor Ort gab es gute Ratschläge: „Es ist nicht ratsam, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen. Vorerst wird ein Gespräch über den Betreffenden noch manchen wertvollen Hinweis zum Grenzverletzer ergeben“, heißt es unter Punkt 9 in der „Ordnung für die Bearbeitung von Leichenvorgängen“. Derart einfühlsam geht es weiter: „Der Umfang der Mitteilung über den Todesfall erfordert ebenfalls großes Fingerspitzengefühl. Bewährt haben sich folgende Mitteilungen: a) … ist durch eine selbstverschuldete Grenzprovokation uns Leben gekommen; b) … ist durch Selbstverschulden tödlich verunglückt; c) ... ist im Grenzgewässer ertrunken.“

Die NVA-Zeit war traumatisch für ihn

Doch im Fall Bittner, der viele andere an Perfidie noch übertrifft, klingelte niemand an der Tür. Natürlich wussten die Brüder und die Mutter von Bittners Ausreisewunsch. Den hegte er schon, seitdem er 1981 aus dem Wehrdienst entlassen worden war. Die NVA-Zeit muss eine traumatische Erfahrung für ihn gewesen sein. „Jetriezt“ hätten sie ihn, sagt seine Mutter in ihrem Berliner Dialekt. „Der ließ sich doch nichts sagen, nicht einmal von mir.“ Sie lächelt, zieht wie zum Beweis eine Holzscheibe aus einer Plastikhülle, sie sieht aus wie das Siegel des US-Präsidenten. „Hat er sich selbst mit der Laubsäge gebastelt.“ Die Scheibe war eine Vorlage für eine Tätowierung, die sich Bittner in den Arm stechen ließ.

„Mein Antrag ist genehmigt“, hatte er am Vorabend seines Fluchtversuchs dem jüngeren Bruder erzählt – was nicht stimmte. Als die Familie drei Tage lang nichts von Michael hörte, meldete Mario Bittner den Bruder als vermisst. Er erhielt die überraschende Antwort, Michael sei im Westen untergetaucht, und zwischen der DDR und der BRD gebe es für solche Fälle ein Abkommen, nach Vermissten solle demnach nicht weiter gesucht werden. „Da wusste ich sofort, da stimmt was nicht“, erinnert sich Irmgard Bittner. Das angebliche Abkommen kam ihr seltsam vor.

Die Stasi eröffnete die „OPK Morgentau“, der Name steht in fetten Lettern auf dem Aktendeckel. Die „operative Personenkontrolle“ richtete sich gegen die Bittners. Alle, die Michael kannten, gerieten ins Fadenkreuz, wurden befragt. Eigensinnig sei er gewesen, ermittelte die Stasi, doch im Prinzip gebe es keine negativen Hinweise, im Gegenteil, Bittners Leumund sei „wegen seines Fleißes gut“ gewesen. Irmgard Bittner wurde abgehört, das Haus durchsucht, Michaels letzter Lohn und sein Sparbuch beschlagnahmt.

Irmgard Bittner arbeitete in der Druckerei des „Neuen Deutschland“, ausgerechnet bei der Parteizeitung. Nun bestellte man sie ins Polizeipräsidium Keibelstraße, denn formal – und wider besseres Wissen – wurde ja wegen Republikflucht ermittelt. Aber alle Überwachungsmaßnahmen gingen fehl. Die Familie wusste tatsächlich nichts. Die Stasi behielt ihr Wissen für sich. Weder wurde eine Urne ausgehändigt noch irgendetwas über Michaels Verbleib mitgeteilt. Obduktionsbericht und Totenschein verschwanden. Stattdessen wurde ein Haftbefehl gegen unbekannt erlassen und wegen „Illegaler Ausschleusung“ ermittelt – ein Pseudo-Verfahren, das erst nach zwei Jahren eingestellt wurde.

Die Gewissheit kam erst nach dem Mauerfall

Der Tatort. Ein Foto der Leiter, auf deren Sprossen Michael Bittner erschossen wurde, verwahrte die Stasi jahrelang in ihren Akten.
Der Tatort. Ein Foto der Leiter, auf deren Sprossen Michael Bittner erschossen wurde, verwahrte die Stasi jahrelang in ihren Akten.

© BStU

Irmgard Bittner arbeitete weiter beim „Neuen Deutschland“. Fand sie Trost bei Kollegen? „Wie denn? Es gab ja nichts Handfestes, worüber ich hätte reden können. Nur Vermutungen. Und schlimme Träume.“ Schließlich hatte man aus den Westnachrichten auch in Ost-Berlin erfahren, dass es an der Grenze Frohnau einen unbekannten Toten gegeben hatte. Irmgard Bittner wurde den Verdacht nicht mehr los, dass dieser Tote ihr Sohn sein könnte. Nach einem Jahr war die Frau, die noch heute so bestimmt auftritt und kein Blatt vor den Mund nimmt, psychisch derart am Boden, dass sie die ständigen Nachtschichten in der Druckerei nicht mehr aushielt. Sie arbeitete fortan als Putzfrau.

Gewissheit bekam sie erst im Mai 1990. Die Mauer war gefallen, aber die beiden deutschen Staaten noch nicht vereinigt. Irmgard Bittner erstattete Anzeige, und die Militärstaatsanwaltschaft Potsdam nahm sich die Akten vor, die so lange Verschlusssache gewesen waren. Ein Major Haase überbrachte dann Ende April 1990 die Nachricht, dass Michael Bittner tot sei, gestorben am 24. November 1986. Nicht aufgeklärt werden konnte der Verbleib seiner Leiche. Und auch nicht, warum die Stasi diesen Fall so besonders hartnäckig vertuscht hatte. Sollte die Urne noch auftauchen, hieß es, würde man selbstverständlich für die Beerdigung aufkommen.

Die Gewissheit brachte neues Leid. „Ich habe mir ausgemalt, wie er da im Sand lag und starb“, sagt Irmgard Bittner. In Michaels Todesstunde habe sie eine Nachtschicht gehabt. „Ich dachte immer, eine Mutter spürt den Moment, wenn ihrem Sohn etwas zustößt. Aber bei mir war nur die Ungewissheit.“ Die imaginierten Bilder verfolgten sie. Mit ihnen kam der Wunsch nach Abrechnung. Sie habe Gewaltfantasien gehabt, sagt Irmgard Bittner, sie wollte, dass auch die Todesschützen einmal Angst spüren.

Der Prozess gegen Hartmut B. und Olaf N. begann 1993, beide waren nicht zuletzt durch die Stasi-Akten eindeutig identifiziert. 1997 verurteilte man sie zu jeweils einem Jahr und drei Monaten wegen Totschlags. Den Schützen wurde zugutegehalten, dass sie am untersten Ende der Befehlskette standen und im Prozess Reue gezeigt hätten. Eine Reue, an die sich Irmgard Bittner nicht recht erinnert. Trotzdem – und trotz ihrer Gewaltfantasien – billigt sie den beiden heute zu, „arme Bengel“ gewesen zu sein.

Im Prozess gegen Krenz und Honecker war sie Nebenklägerin

Staatsanwalt Bernhard Jahntz, damals Ankläger im sogenannten Politbüro-Prozess, sieht Urteile wie dieses heute noch kritisch. Das Gericht sei einer Vorgabe des Bundesgerichtshofs gefolgt, der zuvor das in erster Instanz vergleichsweise strenge Urteil gegen die Schützen im Fall des letzten Mauertoten Chris Gueffroy zurückgewiesen hatte – mit der Begründung, dass die Verhältnismäßigkeit schwer zu wahren sei, wenn jetzt so streng geurteilt würde, denn die höheren Glieder der Befehlskette seien noch nicht zur Verantwortung gezogen worden.

Irmgard Bittner trat als Nebenklägerin in den Prozessen gegen Egon Krenz und gegen Erich Honecker auf, die sich ebenfalls für die Gewalttaten an der Mauer verantworten mussten. An Honecker erinnert sie sich noch gut. „Der hat ewig aus seinen Memoiren vorgelesen. Dabei soll er doch so krank gewesen sein. Ich war auch krank, ich hätte das nicht gekonnt.“

Die „Zerv“, die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität, nahm sich später des Falls Bittner an, um den Verbleib seiner Leiche zu klären. Die erste Spur führte nach Bad Saarow, 1992 wurden die Räume der mittlerweile aufgelösten Militärmedizinischen Akademie durchsucht. Die Fahnder fanden nur noch Teile des Mobiliars, wahllos verstreute Aufzeichnungen und Plastiksäcke voller zerrissener Papiere vor.

Ehemalige Mitarbeiter der Stasi, des städtischen Berliner Bestattungs- und Friedhofswesens, der Pathologie in Bad Saarow und des Krematoriums Baumschulenweg wurden vernommen, die Recherchen schließlich sogar auf die Krematorien in Potsdam und Frankfurt an der Oder ausgedehnt. Niemand wollte etwas gewusst haben oder für die Manipulation des Obduktionsbuchs in Bad Saarow verantwortlich gewesen sein. So viel immerhin haben die Recherchen erbracht: Am 28. November 1986, vier Tage nach der Obduktion, verließ ein gelbbrauner Kleinbus vom Typ Barkas B 1000 mit Michael Bittners Leiche Bad Saarow. Der Fahrer soll ein gewisser „Kalle“ von einer Spezialeinsatzgruppe der Stasi gewesen sein. Doch wo fuhr er hin?

Inzwischen steht eine kleine Stele auf dem Friedhof

Die Zerv-Akten liegen heute im Berliner Landesarchiv, dort befindet sich auch ein Auszug aus dem Einäscherungsregister des Krematoriums Baumschulenweg. Für das Jahr 1986 gibt es zwei Auffälligkeiten. Hinter der Registriernummer 569 076 hat jemand handschriftlich „Mäder“ eingetragen. Das dürfte der am 21. November 1986 auf der Flucht getötete Manfred Mäder sein. Hinter der Registriernummer 569 898 fehlt jeder Namenseintrag. Ein einmaliger Fall, wie damals Krematoriumsmitarbeiter in Vernehmungen durch die Zerv versicherten. Die Anordnung der Einträge legt den Verdacht nahe, dass der Betreffende zwischen dem 10. und dem 17. Dezember 1986 verbrannt wurde.

Einer der damaligen Zerv-Fahnder erinnert sich, man habe gemutmaßt, auch Bittner sei dort eingeäschert und seine Urne in einer anderen Grabstelle versenkt worden. Der Beweis konnte jedoch nie erbracht werden. Verfahren gegen beteiligte Ärzte und MfS-Leute wegen uneidlicher Falschaussage oder sogar Meineid endeten ergebnislos oder wurden wegen Verjährung des Delikts gar nicht erst angestrengt. Die Vertuschung der Taten durch die Stasi blieb ungeahndet. Im Jahr 2000 wurde die Zerv aufgelöst.

Im Sommer dieses Jahres wurde auf dem Friedhof Baumschulenweg aus Anlass des 55. Jahrestages des Mauerbaus eine kleine Stele errichtet, zu Ehren der Mauertoten. Irmgard Bittner erfuhr aus der Zeitung von der kleinen Zeremonie. Da kam die Erinnerung wieder. Seitdem wollte sie so gerne einmal das Feld sehen, auf dem vielleicht auch die Asche ihres Sohnes liegt.

Aber von Rosenthal nach Treptow ist es ein weiter Weg für jemanden, dem schon die kurze Distanz vom Parkplatz schräg gegenüber dem Friedhofstor schwerfällt. Doch jetzt, im späten Herbst, ist es so weit. Sie hat sich schick gemacht, eine elegante schwarze Hose angezogen, steht nun vor der Stele, die von einer bescheidenen Tafel gekrönt wird. Mit der bloßen Hand wischt Irmgard Bittner die Regentropfen ab. „Angehörige wurden im Ungewissen gelassen, getäuscht und eingeschüchtert“, heißt es dort. So gerne würde sie sich hier ihrem Sohn nahe fühlen. Aber es gelingt ihr nicht, nicht nach 30 Jahren, nicht an diesem Ort, von dem sie nicht weiß, ob es der richtige ist.

So bleibt ihr vorerst nur diese eine Hoffnung: dass es doch noch jemanden gibt, der in die damaligen Vorgänge eingeweiht war, der den Mut hat, ihr nach 30 Jahren endlich zu sagen, wo Michaels Urne verblieben ist. Denn das ist Irmgard Bittners letzter großer Wunsch: eine Parzelle auf dem Pankower Friedhof Nordend ganz in ihrer Nähe kaufen zu können, auf der ihre drei Söhne ein gemeinsames Grab finden.

Dieser Text erschien am 29. Oktober 2016 in der Tagesspiegel-Beilage Mehr Berlin und war online zunächst nur im Kiosk Blendle verfügbar.

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