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Anschläge ohne Ende. Mutmaßlich Neonazis zündeten im Februar 2018 in Neukölln den Wagen des Linken-Politikers Ferat Kocak an.

© Ferat Kocak/Die Linke/dpa

Exklusiv

Versäumnisse der Polizei aufarbeiten: Experten prüfen Ermittlungen zu rechtsextremen Anschlägen in Neukölln

Seit Jahren terrorisieren Neonazis Neukölln. Die Polizei findet nur wenig heraus. Jetzt nehmen zwei hochkarätige Fachleute die Ermittlungen unter die Lupe.

Von Frank Jansen

Mit der Serie rechtsextremer Anschläge in Neukölln werden sich nun auch zwei renommierte Sicherheitsexperten befassen, die dafür nach Berlin kommen. Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat nach Informationen des Tagesspiegels die frühere Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, und Ex-Bundesanwalt Herbert Diemer für die im August angekündigte Kommission gewonnen. Leichsenring und Diemer sollen den gesamten Komplex der Ermittlungen zu den Straftaten unter die Lupe nehmen und recherchieren, ob es Versäumnisse gab.

Seit 2016 haben die Sicherheitsbehörden in Neukölln mehr als 70 rechtsextreme Attacken registriert, darunter 23 Brandstiftungen. Polizei, Staatsanwaltschaft und Senat stehen unter Druck, da die bisherigen Ermittlungsergebnisse gering sind, obwohl die "BAO Fokus" der Polizei mit hohem Aufwand agiert.

Die Kommission wird sich vermutlich auch mit dem in der Öffentlichkeit zu hörenden Verdacht befassen, in Polizei und Staatsanwaltschaft gebe es vereinzelt Sympathien für die mutmaßlichen Täter aus der Szene der Neonazis. Als tatverdächtig gelten vor allem die Rechtsextremen Sebastian T., Tilo P. und Julian B.

Die Einsetzung der Kommission hatte der Senat am 29. September beschlossen. Im "Prüfauftrag" für die Experten sind zahlreiche Fragen zu den bisherigen Ermittlungen aufgelistet. So soll unter anderem geklärt werden, ob es bei den Behörden "Anhaltspunkte für Organisationsversagen" gibt, ob sich Polizei und Verfassungsschutz bei operativen Maßnahmen abgestimmt haben und ob Hinweise aus der Telefonüberwachung der verdächtigen Rechtsextremisten übersehen wurden.

Treibende Kraft bei dem ungewöhnlichen Versuch, die Ermittlungen einer Art Generalrevision zu unterziehen, ist Innensenator Geisel. An der Vorlage für den Senat war auch Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) beteiligt. Geisel wird die Kommission gemeinsam mit deren Mitgliedern Leichsenring und Diemer diesen Donnerstag in einer Pressekonferenz vorstellen. Im Januar 2021 soll die Kommission einen Zwischenbericht vorlegen, im Frühjahr dann die kompletten Ergebnisse.

Eberswalde galt als Hochburg der rechten Szene

Leichsenring und Diemer haben viel Erfahrung im Umgang mit rechtsextremer Gewalt. Die 1950 in Radebeul (Sachsen) geborene Leichsenring leitete von 1991 bis 2002 das Polizeipräsidium in Eberswalde. Mit ihrem hartnäckigen Engagement gegen Rechtsextremismus und Rassismus setzte sie Maßstäbe für die Brandenburger Polizei, auch wenn die Resonanz im Landesinnenministerium eher verhalten war. Leichsenring war zudem ein Motor bei der Gründung des Aktionsbündnisses „Netzwerk für ein tolerantes Eberswalde“ im Jahr 1998. Die Stadt galt damals als Hochburg der rechtsextremen Szene und war schon seit Jahren stigmatisiert. Im November 1990 hatte ein rechter Mob mehrere Afrikaner überfallen, der Angolaner Amadeu Antonio starb kurz darauf an seinen schweren Kopfverletzungen.

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Nach der Auflösung des Polizeipräsidiums im Rahmen einer Strukturreform setzte  Leichsenring ihren Einsatz gegen Rechtsextremismus als Landesbeauftragte für das „Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg“ fort. Von 2005 bis 2014 leitete sie dann die Außenstelle Halle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Leichsenring wurde mehrmals ausgezeichnet, im Dezember 2019 erhielt sie von Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) das Bundesverdienstkreuz am Bande. Sie habe sich „durch ihr stetiges Engagement für Demokratie und Toleranz höchste Verdienste erworben“, sagte Stübgen.

Eine markante Figur im NSU-Prozess

Herbert Diemer wurde bundesweit bekannt als ranghöchster Vertreter der Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess. Der 1953 geborene Jurist aus Franken war im größten Verfahren zu rechtsextremem Terror seit der Wiedervereinigung eine markante Figur. Diemer scheute keinen Konflikt mit den Verteidigern von Beate Zschäpe und der weiteren Angeklagten, auch die Kritik vieler Nebenkläger und ihrer Anwälte hielt der Bundesanwalt aus. Der oft wiederholte Vorwurf, die Bundesanwaltschaft halte Akten zurück, prallte regelmäßig an Diemer ab.

Der Bundesanwalt erreichte mit seinen Kollegen, Oberstaatsanwältin Anette Greger und Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, die angestrebte Verurteilung Zschäpes zur Höchststrafe. Der Strafsenat verhängte lebenslange Haft und bescheinigte Zschäpe eine besondere Schwere der Schuld.

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Bei den vier weiteren Angeklagten musste die Bundesanwaltschaft nur im Fall des Neonazis André Eminger eine Niederlage hinnehmen. Die Richter verurteilten den mutmaßlichen Komplizen des NSU zu lediglich zweieinhalb Jahren Haft, Diemer und Kollegen hatten zwölf Jahre gefordert. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, die Bundesanwaltschaft hat gegen die milde Strafe für Eminger Revision eingelegt.

30 Jahre bei der Bundesanwaltschaft

Diemer verfügt über reichlich Expertise bei komplexen Terrorverfahren. Er leitete auch die Ermittlungen zu den linksextremen Banden „Revolutionäre Zellen“ und „Militante Gruppe“ und zum islamistischen Attentäter Arid Uka, der 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen hatte. Diemer war zudem für das 2014 wieder aufgenommene Verfahren zum rechtsextremen Anschlag auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980 zuständig. Insgesamt 30 Jahre war Diemer bei der Bundesanwaltschaft, zum 1. Juni 2019 wurde er pensioniert.

Mit Leichsenring und Diemer holt sich Geisel zwei Experten, von denen ein chirurgischer Blick auf die Arbeit der Sicherheitsbehörden und auch unangenehme Wahrheiten zu erwarten sind. Offen ist allerdings, ob die leidenschaftlich für die Zivilgesellschaft streitende Leichsenring und der stoische Jurist Diemer permanent harmonieren werden. Beiden ist zuzutrauen, dass sie am Ende der Sichtung nicht ganz die Meinung des anderen vertreten. Fachlicher Dissens könnte allerdings dazu beitragen, dass die Prüfung der Ermittlungen zu dem drückenden Problem rechten Terrors in Neukölln ergiebig wird.

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