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Verharmlosung der Judenverfolgung. Eine Teilnehmerin demonstriert mit dem gelben Stern vor dem Bundesgesundheitsministerium gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie

© Fabian Sommer/dpa

Vermehrt Angriffe aus „verschwörungsideologischem Milieu“: Jeden Tag drei antisemitische Vorfälle in Berlin

Mehr Hetze, mehr Verschwörungstheorien – in der Pandemie breitet sich Judenhass weiter aus. Die Recherchestelle Antisemitismus (RIAS) ist besorgt.

Von Frank Jansen

24. Januar in Mitte. Ein Mann verabschiedet sich von einem Bekannten mit „Schabbat Schalom“. Zwei Männer hören es, machen bedrohliche Kopf-ab-Gesten. Der Bedrängte flüchtet in die nahe U-Bahn-Station.

13. Mai, Schöneberg. Das Denkmal für die 1956 abgerissene Synagoge in der Münchener Straße wird mit einem Hakenkreuz und Runen beschmiert.

13. Juni, Mitte. Der Verschwörungsmythiker Attila Hildmann spricht bei einer Kundgebung im Lustgarten von einem "Angriffskrieg" der "Zionisten" und "Satanisten".

18. August, Steglitz-Zehlendorf. Ein Mann wird in einer Kneipe von einem Unbekannten antisemitisch beleidigt und geschlagen. Der Täter zeigt den Hitlergruß und droht dem Opfer mit „Vergasung“.

29. August, Mitte. Bei der Großdemonstration von Coronaleugnern wird ein Jude, der eine Kippa trägt, beschimpft. Die Angreifer rufen, „Ihr denkt, ihr seid die Herrenrasse“ und „Ihr macht den Genozid im Mittleren Osten“.

22. Dezember, Tempelhof-Schöneberg. Einem Rabbiner wird die Fensterscheibe seiner Wohnung eingeschlagen.

Das sind nur sechs Beispiele für antisemitischen Hass, dem Jüdinnen und Juden im vergangenen Jahr in Berlin ausgesetzt waren. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) zählt in ihrem am Montag vorgestellten Jahresbericht noch weitere Fälle auf - und kommt zu einer bitteren Bilanz. Im vergangenen Jahr seien 1004 antisemitische Vorfälle dokumentiert worden, steht im Bericht. Das seien 118 mehr als 2019. Trotz der durch die Pandemie bedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens.

RIAS: Deutlich höhere Zahlen als die der Polizei

„Jeden Tag ereigneten sich also im Durchschnitt knapp drei antisemitische Vorfälle in der Bundeshauptstadt“, schreibt RIAS. Das reicht von physischen Angriffen über Schmierereien bis hin zu judenfeindlicher Hetze im Internet. Bei den meisten Vorfällen, insgesamt 770, handelte es sich um "verletztendes Verhalten". Gemeint sind antisemitische Beschimpfungen, Drohungen und anderes, diffamierendes Verhalten.

"Wir schauen auf ein schwieriges Jahr 2020", sagte der RIAS-Vorsitzende Benjamin Steinitz bei einer Videopressekonferenz am Montag. Jeder fünfte antisemitische Vorfall "wies eine Verbindung zur Pandemie und/oder zu Maßnahmen der Eindämmung auf".

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Die Gesamtzahl der von der Recherchestelle registrierten Vorfälle ist deutlich höher als die der Polizei. Letztere hatte im März für das Jahr 2020 insgesamt 352 antisemitische Delikte gemeldet. Das waren 49 mehr als 2019. Bei den Gewalttaten gab es hingegen einen Rückgang auf zehn (2019: 34). Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, dass unabhängig arbeitende Recherchestellen wie die 2015 vom Senat initiierte RIAS mehr Erkenntnisse haben als die Polizei. Manche Opfer scheuen den Gang zu einer Sicherheitsbehörde. Und anders als die Polizei muss RIAS bei Vorfällen nicht feststellen, ob eine Strafbarkeit gegeben ist.

Die Tendenzen sind allerdings ähnlich. Wie die Polizei meldet RIAS eine Zunahme in der Gesamtbilanz, aber auch einen Rückgang bei Gewalt. Die Recherchestelle erfuhr von 17 Angriffen, im Jahr 2019 waren es 33. Dennoch ist RIAS keineswegs beruhigt. Gewaltsame Angriffe haben sich wegen der Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der Pandemie verlagert - von der Straße und dem öffentlichen Personennahverkehr zu Attacken im Wohnumfeld der Betroffenen. Das sei gerade in der Pandemie besorgniserregend, heißt es, da „die Bedeutung des persönlichen Wohnorts als Rückzugsraum“ gestiegen sei. Und die Bedrohungssituation im Privaten, befürchtet RIAS, könnte auch nach Abklingen der Pandemie anhalten.

Mehr als 200 Jüdinnen und Juden betroffen

Die Zahl der Personen, die von körperlichen Angriffen, Beleidigungen, Drohungen und weiteren antisemitischen Vorfällen direkt betroffen waren, stieg 2020 auf 348 (2019: 330). Die meisten, insgesamt 238, waren Jüdinnen und Juden. Bei den anderen Betroffenen handelt es sich offenbar um Personen, die von den Tätern für Juden gehalten oder auch ohne eine solche Zuschreibung antisemitisch angefeindet wurden.

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Bei den meisten Vorfällen, die politisch zugeordnet werden können, sieht RIAS einen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Hintergrund. Deutlich gestiegen seien zudem „Vorfälle aus dem verschwörungsideologischen Milieu“. Einen Rückgang habe es hingegen beim „antiisraelischen Aktivismus“ gegeben. Bei etwa der Hälfte aller Fälle lässt sich für RIAS kein weltanschaulicher Hintergrund erkennen. Die Recherchestelle hält ein Hakenkreuz nicht automatisch für einen sicheren Hinweis auf den oder die Täter. Die Polizei sieht das anders und bewertet die große Mehrheit judenfeindlicher Delikte als rechts motiviert.
Die meisten antisemitischen Vorfälle registrierte RIAS im Bezirk Mitte (155). Ein Grund: Hier fanden die von antisemitischen Verschwörungstheorien geprägten Demonstrationen von Coronaleugnern, Rechtsextremen und Reichsbürgern gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie statt. Es folgen Charlottenburg-Wilmersdorf (70), Friedrichshain-Kreuzberg (51), Pankow (40) und Neukölln (30). Die wenigsten Vorfälle, nur sechs, gab es in Reinickendorf. Zahlreiche Fälle waren keinem Bezirk zuzuordnen, da es sich um Delikte im Internet handelte, vor allem um Hetze in den so genannten sozialen Netzwerken.

Fraktionen in Sorge

Die Bilanz von RIAS ruft im Abgeordnetenhaus Unruhe hervor. Besonders der Anstieg der Anfeindungen im persönlichen Wohnumfeld sei besorgniserregend, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Fraktionen von SPD, CDU, Linken, Grünen und FDP vom Montag. Es sei erschreckend, "dass antisemitische Vorfälle in Berlin trotz der pandemiebedingt geringeren Mobilität zugenommen haben", sagte Susanne Kitschun (SPD). Cornelia Seibeld warnte, "geradezu alarmierend ist, wie sehr antisemitische Stereotype und Verschwörungsmythen oder auch Shoah-Verharmlosungen im Umfeld von Impfververweigerern und Querdenkern verankert sind".

Anne Helm (Linke) mahnte, "es bleibt unsere Verantwortung als Berliner Demokrat*innen, den zunehmenden Angriffen gegen Jüdinnen und Juden etwas entgegenzusetzen". June Tomiak (Grüne) rief dazu auf, "wir müssen entschlossen und nachhaltig gegen jeden Antisemitismus kämpfen". Der FDP-Abgeordnete Stefan Förster betonte, "das konsequente Vorgehen gegen den Antisemitismus in all seinen Facetten kann nur gelingen, wenn wir hierzu ein parteiübergreifend breiter Konsens herrscht". Der Bericht von RIAS ist zu finden über: https://report-antisemitism.de/publications/

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