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Bald könnten alle parkenden Autos aus dem Graefekiez verschwinden.

© imago/IPON

Update

Verkehrsversuch in Berlin: Im Kreuzberger Graefekiez sollen alle Auto-Parkplätze wegfallen

Grüne und SPD wollen für mindestens sechs Monate die Parkplätze im Graefekiez streichen – aber fürs Carsharing neue schaffen. Autobesitzer sollen ausweichen.

Autobesitzer müssen sich im Kreuzberger Graefekiez künftig wohl Gedanken machen, wo sie ihren eigenen Pkw abstellen. Für einen Modellversuch des Bezirks mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) sollen alle Parkplätze innerhalb des Viertels verschwinden. So sieht es zumindest ein Antrag von Grünen und SPD in Friedrichshain-Kreuzberg für die Bezirksverordnetenversammlung vor.

Geplant ist für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten im gesamten Graefekiez das Abstellen privater Pkw im öffentlichen Raum zu verbieten. Dies betrifft neben der Graefestraße auch die Dieffenbach-, Böckh-, Grimm-, Lachmann, Müllenhof-, Bopp- und Schönleinstraße. Das gesamte Gebiet soll in dieser Zeit zur Spielstraße werden.

Komplett gesperrt für Autos würde das Gebiet in der Zeit nicht. Das Befahren der Straßen solle „grundsätzlich weiter möglich bleiben“, heißt es in dem Antrag. Auch Anlieferungen sollen weiterhin „uneingeschränkt möglich“ sein. Jedoch wollen die Verordneten einen Schleichweg für Autofahrer unterbinden: Die Durchfahrt der Schönleinstraße soll dazu zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraße eingeschränkt werden.

Auch würden nicht grundsätzlich alle Stellflächen verschwinden. „Die Parkplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen sollen erhalten bleiben, ebenso wie weitere Parkmöglichkeiten für stationsgebundenes und auch flexibles Carsharing auf markierten Flächen“, schreiben die Verordneten.

Anwohner sollen ihre Autos im Parkhaus abstellen

20 Stellplätze für Elektro-Carsharingfahrzeuge seien an den bereits installierten Ladesäulen im Kiez geplant. Daneben sollen neben bereits bestehenden Sharing-Stellflächen weitere Parkplätze für geteilte Pkw eingerichtet werden. Um leichter auf das eigene Auto vor der Haustür verzichten zu können, wollen die Fraktionen das Angebot an Leihrädern und Mietlastenrädern erhöhen. Erst kürzlich hatte der Bezirk die ersten drei Stellplätze für mietbare Lastenräder im Graefekiez eingerichtet.

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Auch für betroffene Pkw-Besitzer soll es ein Angebot geben. Anwohner könnten demnach ihr Auto für 30 Euro im Monat im Parkhaus am Herrmannplatz abstellen.

Um die Effekte des Verkehrsversuchs zu messen, sollen Forscher des WZB das Experiment wissenschaftlich begleiten. Schon im Vorfeld sollen die Bewohner und Besucher des Kiezes zu ihrer Einstellung zur Maßnahme befragt werden. „Geplant ist, diese Personen nicht nur vor, sondern auch nach Inkrafttreten der Maßnahme in regelmäßigen Abständen (z.B. Ein-Monats-Turnus) wiederholt zu befragen. So können Veränderungen in der Haltung gegenüber der Maßnahme identifiziert werden“, heißt es in einer Studienskizze des WZB.

Um die Auswirkungen auf den Verkehr beschreiben zu können, planen die Forscher, spätestens drei Monate vor Beginn des Versuchs Verkehrszählungen im Graefekiez durchzuführen. Auch die zeitliche Nutzung der Parkplätze soll dabei betrachtet werden.

Zwei Drittel der Bewohner des Bezirks laut Umfrage für das Vorhaben

Zugleich sollen mit Hilfe einer App Daten gewonnen werden, wie und mit welchen Verkehrsmitteln sich die unterschiedlichen Bewohner im Viertel bewegen. Vorgestellt werden sollen die ersten Ergebnisse nach sechs Monaten bei einem Kiezfest.

Bereits im Sommer 2021 hatten Forscher des WZB Anwohner im Bezirk gefragt, wie sie zu einer Verkehrsberuhigung ihres Kiezes stehen. Unter den Teilnehmern in Kreuzberg bewerteten dabei 68 Prozent ein Viertel ohne parkende Autos positiv. In Friedrichshain lag der Wert bei 69 Prozent.

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„Eine wirksame Klimapolitik erfordert eine Begrenzung des mobilisierten Individualverkehrs (MIV) insbesondere dort, wo ein hoher Siedlungsdruck herrscht und die Bewohner*innen und Besucher*innen ausreichende Alternativen zur Verfügung haben“, heißt es im Antrag der Fraktionen. Mit dem Feldversuch könnten Erkenntnisse gewonnen werden, „wie die dringend notwendige Mobilitätswende so umgesetzt werden kann, dass möglichst alle Menschen davon profitieren“.

Anders sieht es die FDP-Fraktion im Bezirk. „Die Streichung von Parkplätzen löst nicht das Problem. Im Gegenteil. Viele Anwohner:innen werden ihre Fahrzeuge in den umliegenden Straßen abstellen, wo sich der Parkdruck und das Verkehrsaufkommen erhöhen wird“, sagte der Co-Vorsitzende Michael Heihsel. Grünen und SPD wollten „Schritt für Schritt die freie Wahl der Verkehrsmittel einschränken“.

Vor dem Hintergrund der Möglichkeiten, die künftig smarte, autonom und elektrisch fahrende Autos bieten, würden sei diese Vorgehensweise „nicht im Sinne des Leitbildes eines mündigen Bürgers“.

Bis der Versuch kommt, dauert es noch

Bis es soweit ist, wird ohnehin wohl noch Zeit vergehen. Der Antrag wurde am Mittwochabend zunächst zur weiteren Diskussion in zwei Ausschüsse (Verkehr und Ordnung sowie Umwelt und Naturschutz, Grünflächen und Klimaschutz) überwiesen. Nach einem Beschluss müsste zunächst das Bezirksamt über eine Umsetzung beraten, wie Sprecherin Sara Lühmann erläuterte. Auch das WZB rechnet mit einer viermonatigen Vorbereitungsphase.

Offen dafür zeigt sich der grün-geführte Bezirk allerdings. Für die Verkehrswende und das Bestreben nach mehr Flächengerechtigkeit sei es wichtig, einmal beispielhaft zu zeigen, wie der Straßenraum ohne parkende Autos genutzt werden könne, so die Sprecherin.

Dabei sind weitere Fragen offen. Vor allem, wie das unterbesetzte Ordnungsamt des Bezirks dauerhaft kontrollieren will, dass nicht doch Autofahrer ihren Wagen im Kiez abstellen. Schon aktuell kann das Amt seinen Aufgaben wie der Parkraumüberwachung kaum nachkommen.

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