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In Berlin erinnern "Ghost Bikes" an jene Radfahrer, die im Straßenverkehr umgekommen sind.

© Soeren Stache/dpa

Verkehrssicherheit: Der Berliner Straßenverkehr ist Barbarei!

Binnen 24 Stunden sterben in Berlin zwei Kinder bei Verkehrsunfällen. Die Statistiken erfassen nicht, wo das Problem liegt. Das muss sich ändern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stefan Jacobs

Sollten die Flaggen auf dem Roten Rathaus oder wenigstens auf dem Dienstgebäude der Verkehrsverwaltung nicht auf halbmast wehen? Und wäre nicht eine stadtweite Schweigeminute angebracht? Eine Minute, in der die Fußgänger inne- und die Autos, Lastwagen, Radfahrer, Busse und Straßenbahnen anhalten, damit sich alle vergegenwärtigen, was passiert ist? Zwei tote Kinder im Berliner Straßenverkehr binnen 24 Stunden hat es seit 25 Jahren nicht mehr gegeben. Wer täglich unterwegs ist, muss wohl sagen: erstaunlicherweise. Und darüber müssen wir dringend reden.

Um mit den konkreten Fällen anzufangen: Die 13-Jährige, die am Dienstag in Lichtenberg mit ihrem Fahrrad von der Straßenbahn erfasst wurde, hat die Tram offenbar nicht beachtet. In die Polizeistatistik wird sie als Verursacherin eingehen. Selbst schuld.

Was in der Statistik nicht steht: An der ampellosen Unfallstelle quert man die Tramgleise, ohne dass ein Umlaufgitter einen bremst oder wenigstens ein Blinklicht oder Gong warnt, wenn die Bahn kommt. Ja, richtig, man muss halt gucken, aber es war ein Kind! Ein Kind, das einen einzigen Fehler mit dem Leben bezahlt hat. In anderen Städten sind solche Warnsignale an Gleisquerungen selbstverständlich.

Es gibt längst Abbiegeassistenten

An der Stelle, an der Mittwochfrüh in Spandau ein Achtjähriger von einem abbiegenden Lastwagen überfahren wurde, gibt es dagegen ein Gitter. Es steht so zwischen Radweg und Fahrbahn, dass es die Sicht der Autofahrer auf die Radler behindern kann. Dann hatten beide Grün, der Junge, der mit seiner Mutter geradeaus wollte, und der Lkw, der rechts abbog. Nur am Rande sei bemerkt, dass es für den beteiligten Lastwagen schon jetzt einen wirksamen Abbiegeassistenten gäbe, die die Überforderung des Fahrers (sechs Außenspiegel, jeder verzerrt anders!) verringern würde.

Lkw und Radler hatten gleichzeitig Grün, wie das in Berlin üblich ist. Getrennte Ampelphasen würden an vielen Stellen wohl die Wartezeit verlängern und gelten deshalb als Tabu.

Aber wer diesen Status Quo verteidigt, muss auch sagen, wie viele Opfer der jedes Jahr wert ist: Ein knappes Dutzend Tote, allein in Berlin. Und eine mutmaßlich wesentlich größere Zahl von Menschen, die das leichtfertige Vertrauen auf grünes Ampellicht nicht mit dem Leben bezahlt haben, sondern als Pflegefälle vegetieren.

Die Statistik muss sich ändern

Womit wir wieder bei der Polizeistatistik sind. Die kennt rund 15.000 Leicht- und 2300 Schwerverletzte im Jahr. Horrorzahlen, die aber den schlimmsten Teil der Wahrheit sogar ausblenden: Als schwerverletzt zählen alle, die mindestens eine Nacht im Krankenhaus verbracht haben. Ob sie zwei Wochen später wieder fit waren oder es nie wieder wurden, erfährt niemand außer ihnen und den Angehörigen, die damit zurechtkommen müssen. Eine Rubrik „Schwerstverletzte“ würde das ändern – und manchen Verkehrsteilnehmer dazu bewegen, nicht ganz so fest aufs Gas zu drücken oder einmal mehr zu gucken, ob frei ist.

Apropos gucken: „Missachtung des Fahrzeugverkehrs“ ist die häufigste Ursache sowohl bei Unfällen von Fußgängern als auch von Kindern. „Plötzliches Hervortreten“ hinter Sichthindernissen ist jeweils auf dem dritten Platz. Was in der Statistik fehlt, ist die Angabe, bei wie vielen dieser Hindernisse es sich um immer dicker werdende, immer dreister an Kreuzungen geparkte Kraftfahrzeuge handelte. Ähnlich lausig ist die zweitgrößte Gefahr für Kinder erfasst: „Fehler beim Einfahren in den Fließverkehr“. So macht die Statistik Opfer zu Deppen. Wer mal ein paar Tage lang darauf achtet, mit welchen irrsinnigen Einfädelmarkierungen überall in Berlin Radwege ins Verkehrsgetümmel geleitet werden, wundert sich, dass der Blutzoll nicht noch viel höher ist. Der Straßenverkehr im Allgemeinen ist der einzige Bereich des modernen Lebens, in dem schon eine kleine Unachtsamkeit tödlich enden kann. Und die Berliner Infrastruktur im Besonderen lädt zu solchen Unachtsamkeiten ein.

Auf der Straße kommt nichts an

Ende 2016 ist die grüne Verkehrssenatorin angetreten mit dem Versprechen, diese Verhältnisse zu ändern. Auf der Straße ist davon noch nichts angekommen. Aber schon jedes Nachdenken über Tempolimits und Umbauten für mehr Sicherheit wird von der koalierenden SPD kritisch beäugt und von der CDU mit Häme übergossen (nicht zu reden von dem Gepöbel, das die AfD regelmäßig an die Redaktionen mailt).

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Warum zum Teufel prüft niemand systematisch die Kreuzungen der Stadt darauf, wie sie sicherer werden könnten und programmiert Ampeln ohne lebensgefährliche Konflikte? Warum haben die Ordnungsämter nicht längst eigene Blitzer wie die in Brandenburger Käffern? Warum verdonnert das Land nicht seinen Eigenbetrieb BVG, alle Tram-Querungen mit Warnsignalen auszustatten?

Die Antwort wird in vielen Fällen auf ein „Haben wir schon immer so / noch nie so gemacht“ hinauslaufen. Solange das so bleibt, werden weiter Tag für Tag Menschen zu Krüppeln oder zu Tode gefahren werden in dieser Stadt. Künftige Generationen werden sich wundern, wenn sie aus den Geschichtsbüchern von dieser Barbarei erfahren, die wir uns so lange schon antun.

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