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Dicht gepacktes Reisen - und der Trend zum Pendeln steigt. Das macht sich vor allem an Knotenpunkten wie hier am Bahnhof Friedrichstraße bemerkbar.

© Hauke-Christian Dittrich/dpa

Verkehrsexperten machen Lösungsvorschläge: Berlin, Hauptstadt der Pendler

Jeder fünfte Beschäftigte der Hauptstadt wohnt in einem anderen Bundesland und pendelt nach Berlin. Ideen für Stadtplanung, Nahverkehr und Arbeitszeitmodelle.

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Aber hier leben? Nein, danke: Immer mehr Menschen finden in Berlin zwar einen Job, belassen ihren Wohnsitz aber lieber in einem anderen Bundesland. Wie eine Auswertung der Bundesagentur für Arbeit zeigt, ist die Zahl der Berlin-Pendler seit 2013 auf 321.000 Menschen gestiegen. Die meisten reisen dabei aus der Region an – aus Brandenburg, um genau zu sein. Aber auch aus entfernteren Bundesländern steigt die Zahl derer, die nach Berlin zum Arbeiten kommen. Die höchsten Zuwächse unter den Pendlerzahlen nach Berlin erreichen (seit 2013) Bremen mit plus 120 Prozent, Baden-Württemberg plus 109 Prozent, Saarland mit 76 Prozent.

Doch der Ansturm der Pendler führt auch zu Problemen: zu Staus auf der Stadtautobahn, zu verstopften U-Bahnen unter der Erde und zu Luftverschmutzung in der Innenstadt, um nur drei zu nennen. Wir haben deshalb bei Experten nachgefragt, was sich ändern muss, damit Berlin auch künftig den Pendleransturm bewältigen kann.

Die Stadtplaner

In erster Linie ist der Pendlerzuwachs eine Herausforderung für die Berliner Infrastruktur und somit die Stadtentwicklung. Und da sieht Jürgen Gies, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) zum Thema Mobilität forscht, in Berlin noch „Luft nach oben“. Denn wie in allen Ballungszentren frequentiere auch in Berlin täglich eine große Zahl von Pendlern dieselben Orte – und überfordere damit bisweilen die Verkehrsinfrastruktur. Gerade bei den Nahverkehrsbeziehungen mit dem Umland sieht Gies Nachholbedarf: „Die Reaktivierung der Heidekrautbahn muss zum Vorbild werden: Verbindungen wie die Kremmener Bahn im Norden oder die Stammbahn-Strecke im Süden der Stadt müssen wieder bedient werden, um das Nahverkehrssystem zu entlasten.“ Gleichzeitig müsse die Zuverlässigkeit der Angebote verbessert werden, sagt er. Noch viel zu oft fielen Züge aus und führten zu überfüllten Folgefahrten.

Gies’ Kollegin Uta Bauer, die zum Thema Stadt- und Regionalverkehr forscht, gibt zu bedenken, dass auch innerhalb Berlins einiges geschehen müsse, um die Infrastruktur zu entlasten. „Nehmen wir die Verlagerung von Teilen des Individualverkehrs auf das Fahrrad – das gelingt in vielen Städten bereits“, sagt sie. Auch in Berlin seien mit den vom Senat geplanten Radschnellwegen Infrastrukturprojekte in der Entwicklung, die das innerstädtische Pendeln künftig erleichtern könnten.

Woher die Pendler kommen.
Woher die Pendler kommen.

© Tsp/Böttcher

Aber auch der Wirtschaftsverkehr habe zuletzt stark zugenommen, was nicht zuletzt mit dem Boom im Onlinehandel zusammenhänge. „Langfristig wäre es deshalb wichtig, dass man stadtteilbezogene Verteilzentren aufbaut, mit denen sich der Wirtschaftsverkehr von Logistikern wie DHL oder UPS stärker bündeln lässt.“ Von solchen Mikrohubs aus ließe sich die Auslieferung auf den letzten Metern zum Kunden besser auf kleinere Elektrofahrzeuge oder Fahrradtransporter verteilen, was wiederum die Straßen entlasten würde. „Das klappt momentan schon sehr gut und ließe sich mittelfristig auch noch ausbauen“, sagt Bauer.

„Wichtig ist es jetzt, bei der Planung von Neubaugebieten, die derzeit in großer Zahl entstehen, Angebote zu schaffen, die eine private Pkw-Nutzung weitgehend überflüssig machen. Das kann in Form einer guten Anbindung an das ÖPNV-Netz geschehen oder mithilfe alternativer Angebote wie Car-Sharing-Diensten und Fahrradverleihsystemen.“ Eines sei klar, sagt Gies: „Planungsfehler wie der fehlende Nahverkehrs-Anschluss etwa im Märkischen Viertel dürften sich künftig nicht wiederholen.“

Doch während Gies fordert, das Nahverkehrsangebot auszuweiten, plädiert er gleichzeitig dafür, den motorisierten Individualverkehr zu erschweren. „So lange viele Arbeitgeber in der Stadt noch große Parkflächen ausweisen, so lange bleibt es auch noch attraktiv, mit dem eigenen Auto in die Stadt zu fahren“, sagt er. Das müsse die Verkehrsplanung der Stadt noch viel stärker steuern. Ein Mittel könnte dabei sein, die Parkraumbewirtschaftung auszudehnen und somit das Autofahren in der Stadt zu verteuern.

Die Gesundheitsexperten

Nicht nur für Straßen, Brücken und S-Bahn-Trassen wird der tägliche Menschenansturm zum Problem, sondern auch für die Pendler selbst. Denn die Zeit auf der Straße kann krank machen – das zeigen Studien seit vielen Jahren. „Verallgemeinern kann man es zwar nicht, aber es gibt gesundheitliche Beschwerden, die im Zusammenhang mit dem Pendeln stehen“, sagt Anne Marit Wöhrmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Das Spektrum der Erkrankungen ist groß: „Viele Pendler klagen über Schlafstörungen, denn wer viel unterwegs ist, hat weniger Zeit zur Erholung“, sagt Wöhrmann. Gleichzeitig verursache der Pendelstress Reizbarkeit und Erschöpfung: „Wer in überfüllten Bahnen keinen Sitzplatz findet oder sich am kalten Bahnsteig die Füße in den Bauch steht oder im Stau stecken bleibt, wird nicht gut gelaunt zu Hause ankommen.“

Manchen schlage der Reisestress sogar auf den Magen, warnt die Psychologin: „Wer lange pendelt, ernährt sich womöglich ungesünder oder zu ungünstigen Zeiten“, was wiederum zu Magenbeschwerden und Verdauungsstörungen führen könne. Die Schwere der gesundheitlichen Konsequenzen ist letztlich abhängig davon, wie sich die Pendler ihre Reisezeit gestalten – und wie lange sie unterwegs sind. Insgesamt 20 000 Erwerbstätige hat Wöhrmanns Behörde nach ihren Pendelritualen befragt. Ergebnis: Etwa die Hälfte der Pendler brauchte für die einfache Strecke zum Arbeitsplatz 15 Minuten täglich. Ein Drittel der Studienteilnehmer war täglich zwischen 30 Minuten und einer Stunde unterwegs. Und jeder sechste Befragte war sogar mehr als eine Stunde jeden Tag unterwegs. Laut Studie sind Beschäftigte dabei mit ihrer Work-Life-Balance umso unzufriedener, je mehr Zeit das tägliche Pendeln in Anspruch nimmt. Mit längerer Wegezeit nehmen auch verschiedene gesundheitliche Beschwerden zu.

Doch nicht nur die Länge der zurückgelegten Strecke, auch die Planbarkeit der täglichen Pendelei beeinflussen das Wohlbefinden der Arbeitnehmer stark. „Wenn ich mich darauf verlassen kann, dass meine Reisezeit 20 Minuten dauert, belastet mich das Pendeln weniger als etwa eine Situation, in der ich immer fürchten muss, dass Busse oder Bahnen sich verspäten und ich die Anschlussverbindung verpasse“, sagt Wöhrman.

Was aber tun? „Die beste Möglichkeit, um gesundheitliche Folgen zu verhindern, ist die Pendelzeit zu reduzieren – zum Beispiel durch einen Umzug oder einen Zweitwohnsitz in der Nähe des Arbeitsortes“, sagt Wöhrmann. „Denn Wochenpendler sind seltener müde und erschöpft als Arbeitnehmer, die jeden Tag weite Strecken zurücklegen müssen. Allerdings kann die längere Trennung von Familie und Freunden auch belastend sein.“

Aber auch Pendlern, die diesen Schritt nicht gehen wollen oder können, bleiben Möglichkeiten, um sich ihr Pendlerdasein erträglicher zu machen. Wichtig sei, dass man versuche, die Pendelzeit positiv zu nutzen. „Wer ein Hörbuch anhört oder Vokabeln für den Spanisch-Kurs paukt, hat nicht so schnell das Gefühl, die Zeit im Zug zu vergeuden“, sagt Wöhrmann.

Doch nicht nur die Arbeitnehmer, auch die Vorgesetzten können dazu beitragen, dass die Belegschaft ausgeruhter auf der Arbeit auftaucht. „Wenn der Arbeitgeber Gleitzeit anbietet, ist das viel wert, weil ich dann keinen Stress bekomme, wenn ich mal wieder im Stau stand und ein paar Minuten später bei der Arbeit war.“

Der Arbeitszeitberater

Und dass es viele flexible Arbeitszeitmodelle gibt, weiß niemand besser als Andreas Hoff. Vor mehr als 30 Jahren hat Hoff die erste deutsche Arbeitszeitberatung mitgegründet und die Debatte um mehr Flexibilisierung seitdem verfolgt. „Die Gleitarbeitszeit – allerdings mit einer vorgegebenen Kernarbeitszeit – ist eine deutsche Erfindung aus den späten 60er Jahren, die schon damals mit dem Hintergedanken eingeführt wurde, Staus zu verhindern.“ Das Modell sei in den folgenden Jahrzehnten ausgeweitet worden und vielerorts verschwänden mittlerweile auch die Kernarbeitszeiten und würden durch Servicezeiten ersetzt, während der die Mitarbeiter zwar erreichbar, nicht aber im Büro anwesend sein müssten. „Für die Kunden ist es ja meist egal, ob sie den Mitarbeiter im Büro oder in der Privatwohnung erwischen“, sagt Hoff.

„Ich empfehle den Unternehmen, dass der Arbeitsplatz natürlich schon im Betrieb bleibt“, sagt Hoff. Aber häufig biete es sich an, wenn Mitarbeiter bereits vor der Fahrt ins Büro die eine oder andere berufliche Aufgabe von zu Hause aus erledigen. „Warum sollte ich als Arbeitgeber nicht Rücksicht auf den Fahrtweg meiner Mitarbeiter nehmen und ihnen die Möglichkeit geben, die Stoßzeiten zu vermeiden?“

Doch nicht nur einige Stunden, viele Firmen gestehen ihren Mitarbeitern mittlerweile ganze Arbeitstage fernab des Betriebes zu: „Aus meiner Erfahrung heraus ist bei den Großunternehmen die Bereitschaft, den Mitarbeitern Home- Office-Tage zu ermöglichen, flächendeckend vorhanden.“ Mehr noch, wer derartige Arbeitszeitmodelle nicht anbiete, habe mittlerweile sogar Probleme, gutes Personal zu rekrutieren. Anders sehe es allerdings aus, wenn es um Jobs jenseits der Großkonzerne geht: „Kleinere Betriebe hängen noch an der Kernarbeitszeit und tun sich mit wirklich flexiblen Arbeitszeitmodellen und Home-Office-Tagen schwer“, sagt Hoff. „Aber natürlich geraten auch sie immer stärker unter Druck.“

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