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Ein E-Scooter der Verleihfirma Lime.

© Gabriel Bouys/AFP

Update

Verkehr: Gutachter hält E-Roller auf Gehwegen für verfassungswidrig

Ein Berliner Wirtschaftsrechtler sieht keine Rechtsgrundlage für Pläne, E-Roller auf Gehwegen zuzulassen. Das Grundgesetz fordere den Schutz der Fußgänger.

Von Christian Hönicke

Die geplante Freigabe für Elektroroller auf Gehwegen verstößt gegen das Grundgesetz. Zu diesem Schluss kommt der Berliner Wirtschafts- und Umweltrechtler Prof. Dr. Stefan Klinski in einem Rechtlichen Kurzgutachten. Klinski lehrt seit 2004 an der Berliner Hochschule für Wissenschaft und Recht (HWR) mit Schwerpunkt Verfassungs-, Verkehrs- und Umweltrecht. Darüber hinaus erstellt er wissenschaftliche Rechtsgutachten, etwa für das Umweltbundesamt.

Das Bundesverkehrsministerium plant bis Ende Mai die Zulassung von Elektrokleinstfahrzeugen. Im aktuellsten Referententwurf vom 19. Februar wurde dafür die zuvor angedachte Mofa-Führerscheinpflicht für Roller mit Lenk- und Haltestangen abgeschafft. Sie dürfen künftig schon von 12-Jährigen gefahren werden. Dafür wurden zwei Klassen geschaffen: Roller zwischen 6 und 12 km/h sollen dabei auf ausschließlich Gehwegen, jene zwischen 12 und 20 km/h vorrangig Radwegen fahren.

Auch die von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) angekündigte Ausnahmeverordnung für E-Fahrzeuge ohne Lenk- und Haltestange auf Gehwegen "erweist sich als rechtlich nicht haltbar", so Klinski. Das betrifft E-Skateboards, Hoverboards oder One-Wheeler unter 12 km/h. Da sie laut dem Bundesamt für Straßenwesen zu gefährlich für Radwege sind und dort laut dem Verkehrsministerium den Verkehrsfluss behindern würden, sollen sie auf Gehwegen fahren. Entsprechende Pläne wurden vom Ministerium trotz mehrfacher Anfrage nicht dementiert.

Gegen die Pläne stellen sich Fußgängerverbände, auch der Unfallforscher Siegfried Brockmann sieht dadurch eine Gefährdung von Fußgängern. In den USA wurden laut Untersuchungen der Verbraucherschutzorganisation „Consumer Reports“ mehr als 1500 Menschen seit Ende 2017 durch E-Roller-Unfälle verletzt. Klinski kommt nun zu dem Schluss, dass es für eine solche Rechtsverordnung generell an einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage im Straßenverkehrsgesetz (StVG) fehle. Das ermächtige zwar grundsätzlich zum Erlass von Rechtsverordnungen. Doch das Grundgesetz sehe in Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 vor, dass für eine Rechtsverordnung „Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt“ werden, so Klinski. Entscheidend sei hier § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG, der dazu ermächtigt, durch Verordnung „die sonstigen zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen (...) erforderlichen Maßnahmen" zu regeln.

In Rechtsprechung und -literatur bestehe dabei jedoch Einigkeit darüber, dass unter den beiden Zielen „Sicherheit" und „Ordnung" der Sicherheit die Priorität zukomme. Zudem spreche die Vorschrift ausdrücklich davon, dass die Rechtsverordnung der „Erhaltung" der Sicherheit und Ordnung dienen müsse. "Eine Freigabe von Gehwegen für Hoverboards oder andere Elektrofahrzeuge würde jedoch nicht der Erhaltung der Sicherheit dienen, sondern neue, zusätzliche Gefahren auf Gehwegen schaffen", so Klinski. "Sie würde auch der Ordnung des Verkehrs nicht dienlich sein, weil sie weder für den Ablauf des Verkehrs auf der Straße noch für den reibungslosen Verkehr auf Gehwegen einen Nutzen bringt, sondern dessen Ordnung im Gegenteil erschwert."

Die Verordnung würde das im Grundgesetz verankerte staatliche Schutzgebot missachten

Mit der geplanten generellen Freigabe für Fahrzeuge unter 12 km/h würde dem Interesse, die E-Fahrzeuge auf Gehwegen zu benutzen, Priorität vor den Sicherheitsinteressen der Fußgänger und dem Interesse an einem geordneten Gehwegverkehr eingeräumt. Beiden Zielen von § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG würde damit zuwidergehandelt, so Klinski. Deshalb liege es nahe, dies als verfassungswidrig einzuordnen. § 6 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes, so Klinski, würde dem Bund zwar außerdem noch den Erlass von Verordnungen über „Ausnahmen“ gestatten. Die geplante Regelung würde aber nicht dem Typus einer Ausnahmeregelung entsprechen, weil sie allgemein auf allen Gehwegen in Deutschland gelten und damit den Charakter der Gehwege als grundsätzlich dem Fußverkehr vorbehalten generell verändern würde. Denkbar seien hier laut Klinski "allenfalls partielle Ausnahmen aus besonders gewichtigen Gründen", nicht aber neue allgemeine Regeln. Selbst das Verkehrsministerium hat die zu erwartenden Gefahren durch E-Fahrzeuge für Fußgänger unlängst öffentlich im Bundestag eingeräumt.

Auch gegenüber der geplanten Rechtsverordnung, die Gehwege für E-Fahrzeuge unter 12 km/h freigeben soll, "bestehen grundlegende verfassungsrechtliche Bedenken", so Klinski. Diese erhebt der Gutachter auch für die im Rahmen der regulären Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung vorgesehene Regelung, nach der Fahrzeuge mit Lenkstange, die bauartbedingt auf bis zu 12 km/h ausgelegt sind, auf Gehwegen zu benutzen, obwohl sich diese von schnelleren Rollern optisch nicht klar unterscheiden lassen. Mit der Verordnung würde grundgesetzwidrig den wirtschaftlichen Interessen der Hersteller und den Verwendungsinteressen der Nutzer Vorrang vor den gesundheitlichen Schutzinteressen der Fußgänger eingeräumt. Wenn das Verkehrsministerium eine entsprechende Regelung schaffen wolle, wäre das laut Klinski nur nach vorheriger Änderung des StVG möglich. Doch auch dies sei wegen der Gefährdung der Fußgänger nicht mit der im Grundgesetz garantierten staatlichen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit im Straßenverkehr zu vereinbaren. Klinski: "Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit ausdrücklich ein besonderes Gewicht zu."

Außerdem führe die Freigabe zu einer Einschränkung der von Grundgesetz-Artikel 2 Absatz 1 geschützten "Allgemeinen Handlungsfreiheit der Fußgänger", da diese sich auf den Gehwegen weniger frei bewegen könnten als zuvor. Gegenüber diesen grundrechtlich geschützten Interessen sei eine generelle Freigabe für wesentlich schnellere E-Fahrzeuge nicht verhältnismäßig, so Klinski.

Auch Beschränkungen wie eine Höchstgeschwindigkeit von 12 km/h, ein spezielles Rücksichtnahmegebot oder eine Versicherungspflicht dürften daran nichts ändern, so Klinski. Zwar würden die Gefahren so "in gewissem Umfang" herabgesetzt, jedoch nicht auf ein Niveau, "dass sie in der Interessenabwägung rechtlich als zumutbar eingeordnet werden könnten". Zudem müsse davon ausgegangen werde, dass sich wie auch sonst im Straßenverkehr nicht alle an die Regelungen halten würden - schon gar nicht Kinder und Jugendliche, die solche Fahrzeuge oft spielerisch-sportlich benutzten. "Bei seiner Abwägung darf der Gesetz-/Verordnungsgeber nicht unrealistisch unterstellen, die betreffenden Verbote würden praktisch stets befolgt", so Klinski. "Er muss von der tatsächlichen Gefahrensituation ausgehen." Deshalb dürfe er nicht die Augen davor verschließen, dass eine wirksame Kontrolle kaum möglich sei.

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