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In der Schilkin-Destille wird auch der gute DDR-Goldbrand gebrannt.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo's Berliner Luft in Kisten gibt

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Folge 42: Kaulsdorf.

In Kaulsdorf begegneten mir unzählige Einfamilienhäuser und genau vier Kirchturmspitzen. Die erste Spitze war schwarz-weiß, eine andere roch nach Wodka, eine dritte ragte in den Kaulsdorfer Himmel, unter der vierten spielten Kinder.

Aber der Reihe nach.

Die Jesuskirche am alten Dorfanger fand ich verschlossen vor, aber ich hatte Glück. Ein älterer Herr lief mir über den Weg, ein pensionierter Ingenieur, der zu DDR-Zeiten das marode Gotteshaus gewartet hatte und heute im alten Schulhaus neben der Kirche wohnte. Mit dem Gemeindeschlüssel öffnete er mir die Pforte und führte mich bis in den Turm, wo er mir von den letzten Kriegstagen in Kaulsdorf erzählte. Als die Rote Armee näher rückte, schossen die Deutschen, die sich am Ufer der Wuhle eingegraben hatten, vorsorglich den Kirchturm vom Dach, damit die Sowjets dort kein Geschütz in Stellung bringen konnten. So ging die Turmspitze verloren, die schmal und lang und neugotisch war, ein Schwarz-Weiß-Foto im Kirchenmuseum zeugt davon.

Die zweite Turmspitze, die klein und silbern und zwiebelförmig war, begegnete mir etwas weiter südlich, im Werksverkaufladen der Schilkin-Destille. Es war die Verschlusskappe einer Wodkaflasche – sie war einer orthodoxen Kirchenkuppel nachempfunden. „Zarenwodka“, sagte der Verkäufer. „Unser bester.“ Er erzählte mir von Apollon Schilkin, dem Petersburger Wodka-Fabrikanten, der mit seinen Schnäpsen einst den Zarenhof beliefert hatte, bis er vor den Bolschewiken nach Berlin fliehen musste. Im alten Gutshof hatte er eine Wodka-Destille aufgebaut, die später sein Sohn Sergej weiterführte. Dieser Sergej Apollonowitsch Schilkin muss ein ziemlich bunter Vogel gewesen sein. Der Verkäufer drückte mir die Memoiren des 2007 verstorbenen Schnapsfabrikanten in die Hand, die sich lesen, als sei die DDR-Ära ein einziges heiteres Spiel gewesen, bei dem es darum ging, auf möglichst kreative Art die planwirtschaftlichen Produktionsvorgaben der Partei zu unterlaufen.

Die Jesuskirche in Kaulsdorf wurde dank einer Stiftung saniert.
Die Jesuskirche in Kaulsdorf wurde dank einer Stiftung saniert.

© Jens Mühling

Der Verkaufsschlager der Schilkin-Destille ist heute kein Wodka, sondern ein Pfefferminzlikör namens „Berliner Luft“. Ich zögerte, als der Verkäufer mir ein Glas anbot – es war 11 Uhr vormittags. „Na und?“, sagte der Mann. „Ist doch keine Schande.“ Schulterzuckend leerte ich das Glas. Es schmeckte ein wenig nach Zahnpasta, wenn auch nicht nach der schlechtesten Zahnpasta. Während ich dem Verkäufer meine Eindrücke schilderte, betrat eine Dame den Laden, die eine ganze Kiste Berliner Luft mitnahm. „Haben wir schon zu DDR-Zeiten getrunken“, sagte sie. „Und heute trinkt es meine Tochter.“

Mit dem Geld, das Schilkin nach der Wende als nunmehr kapitalistischer Schnapsfabrikant verdiente, rief er eine Stiftung für Kaulsdorf ins Leben, die sich für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Kirchturms einsetzte. Deshalb thront heute auf der Jesuskirche eine Nachbildung jener neugotischen Spitze, die ich auf dem Foto im Museum gesehen hatte. Das provisorische Zeltdach aus Zinkblech, mit dem der Turm nach dem Krieg abgedeckt worden war, wurde 1999 demontiert. Anstatt es zu entsorgen, fand man in Kaulsdorf eine neue Verwendung für diese vierte Kirchturmspitze: Sie beschattet den Spielplatz einer Kita.

Fläche: 8,81 km² (Platz 42 von 96)

Einwohner: 18921 (Platz 57 von 96)

Durchschnittsalter: 46,2 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Heinrich Grüber (Pfarrer in der NS-Zeit), Sergej Schilkin (Unternehmer)

Gefühlte Mitte: Jesuskirche

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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