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Stilles Wasser. Wer oder was ruht auf dem Grund des Heiligensees?

© Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo Schwäne unheilvoll starren

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 35: Heiligensee.

Als ich die Linden-Baude in Alt-Heiligensee betrat, platzte ich mitten in eine philosophische Diskussion.

„Ich hab meinen Gemüsegarten“, sagte einer der versammelten Trinker. „Wenn’s hart auf hart kommt, kann ich mich selbst versorgen.“ Ein zweiter schaltete sich ein: „Geld kann in den Arsch gehen. Nur ein Haus, das geht nie in den Arsch.“ Ein dritter meldete sich zu Wort: „Mehr als ein Auto kann man nicht fahren“, sagte er. „Und mehr als einen Pulli nicht tragen“, pflichtete ein vierter bei. Ein fünfter räusperte sich gewichtig. „Ins Grab nimmste nüscht mit“, ergänzte er.

In der Kneipe kennen sie die vielen Sagen über den See

Die Linden-Baude dürfte eine der kleinsten Kneipen Berlins sein. Es geht die Legende um, dass sich in dem winzigen Schankraum einmal 17 Leute gleichzeitig aufgehalten haben sollen, aber Sitzplätze gibt es nicht einmal für die Hälfte, und wenn das mit den 17 Leuten stimmt, können unmöglich alle von ihnen beide Füße auf dem Boden gehabt haben. Der kleine Backsteinpavillon, in dem die Kneipe untergebracht ist, steht neben einer Bushaltestelle, die mal eine Tramhaltestelle war – in der Linden-Baude gibt es ein Foto aus den seligen Zeiten, als nach Heiligensee noch Straßenbahnen fuhren.

Der sehr dörfliche Kern des Ortsteils liegt auf einer Art Landzunge zwischen der Havel und dem namensgebenden Heiligensee, einem kleinen, schilfumwehten Gewässer, über das hier viele Sagen kursieren. Alle Gäste in der Linden-Baude kannten die Sagen, aber keiner bekam sie richtig zusammen. Ein Schloss sei im See versunken, meinte einer. Nein, eine Kirche, sagte ein anderer, bei Vollmond höre man manchmal Glocken läuten, worauf eine weiße Frau aus dem See steige. Aber Sabine, die Bauden-Wirtin, hatte in ihren 60 Heiligenseer Jahren weder die weiße Frau gesehen noch die Glocken gehört.

Am Ufer des Sees: nur eine verwaiste Damenumkleide

In der nächsten Kneipe erfuhr ich mehr. In der Gaststätte des Strandbads Heiligensee hingen handschriftliche Überlieferungen der See-Sagen an den Wänden. Versunkenes Schloss – check. Versunkene Kirche – check. Weiße Frau – check. Weiter hieß es, dass nach Stürmen manchmal Silbermünzen an den Ufern gefunden wurden, dass ferner einmal zwei schwarze Stiere in die Fluten gesprungen und nie wieder aufgetaucht seien, dass außerdem ein Bauer am Ufer eine eiserne Kette gefunden und daran einen schwarzen Schwan aus dem See gezogen habe. Auch von Glocken war die Rede – Glocken, die manchmal aus der Tiefe auftauchten und läutend miteinander sprachen.

Am Ufer des Sees sah ich nur eine verwaiste Damenumkleide, deren Holztür im Herbstwind quietschte. Zwei Schwäne starrten mich an, nicht schwarz, sondern weiß, aber ihre Blicke kamen mir nach all den Sagen irgendwie unheimlich vor.

Sandhügel, die durch Wälder wandern

Fährt man von Alt-Heiligensee ostwärts den Elchdamm entlang, landet man in den Baumbergen, einer sogenannten Binnendünenlandschaft, was bedeutet, das hier windbewegte Sandhügel durch die Wälder wandern. Die Baumberge sind ein ganz und gar unberlinischer und auch unbrandenburgischer Ort, auf deren sandigen Gipfeln man sich sehr weit weg und fast am Meer wähnt, besonders bei stürmischem Herbstwetter.

Sie werden mir das nicht glauben – aber während ich da oben in den Dünen stand, drang vom See her plötzlich leises Glockengeläut an mein Ohr.

Fläche: 10,7 km² (Platz 28 von 96)

Einwohner: 18.123 (Platz 60 von 96)

Durchschnittsalter: 47,9 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Hannah Höch (Dadaistin), Max und Maria Klesse (NS-Widerständler)

Gefühlte Mitte: Linden-Baude

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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