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Dünnbesiedelt und am Rand. Der Blick in Richtung Lindenberger Straße und Dorfstraße.

© euroluftbild.de/Robert Grahn

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo Berlin besonders bäuerlich ist

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Nummer 88: Wartenberg.

Ost-Ortsteile , vor allem die entlegeneren, beginnen oft mit S-Bahn-Unterführungen, durch die der Geruch vietnamesischer Imbisse weht. Ich war deshalb nicht überrascht, im S-Bahnhof Wartenberg ein Restaurant namens „Drachen-Bistro“ vorzufinden. Überrascht war ich erst, als ich feststellte, dass der S-Bahnhof Wartenberg gar nicht im Ortsteil Wartenberg liegt – der beginnt nämlich erst ein paar hundert Meter weiter nordöstlich, wo aus dem Schatten der Hohenschönhausener Plattenbauten plötzlich die Wartenberger Einfamilienhäuser hervortreten.

Wieder ein paar hundert Meter weiter geht der äußerst dünn besiedelte Ortsteil dann auch schon in Kleingärten und Gemüseäcker über, die bis zur nördlichen Stadtgrenze reichen. Im alten Dorfkern gruppieren sich ein paar unscheinbare Bauernhäuser um einen kleinen Weiher, neben dem die Statue eines langbeinigen Vogelpaars steht – ob es sich um Störche oder Reiher handelt, konnte mir niemand genau sagen.

Ansonsten werben im Zentrum des Ortsteils ein paar wenige Läden um die Aufmerksamkeit weniger Passanten, darunter ein Haushaltswarengeschäft („Fairkauf – Teuer hat hier Hausverbot“), ein Katzenladen („kratzbar.de – das Kratzbaumparadies“), ein Bestatter („Wenn die Sonne des Lebens untergeht, leuchten die Sterne der Erinnerung“), sowie ein ambulanter Pflegedienst namens „Damals war’s“.

Salat für Mc Donald’s- und Discounter-Filialen

Das wäre es dann mit dem öffentlichen Leben in Wartenberg auch schon mehr oder weniger gewesen – wenn da nicht die „Gartenlaube“ wäre. Als ich das kleine Lokal am Birkholzer Weg um die Mittagszeit betrat, starrten dort vier Herren in Handwerkermontur beim Schnitzelkauen auf einen Fernseher, der gerade eine Doku zum Thema Atommüllentsorgung zeigte. Für eine Million Jahre, erklärte der Sprecher, müsse solcher Müll in Deutschland gesichert werden, während der Homo sapiens, nur mal so zum Vergleich, erst seit 200.000 Jahren auf der Erde lebe.

Ich hatte diese gewaltigen Zeithorizonte noch im Kopf, während ich mich mit Martin unterhielt, dem Wirt der Gartenlaube. In Wartenberg, erzählte er mir, seien zu Ostzeiten Champignons gezüchtet worden, in großen LPG-Hallen, die inzwischen abgerissen und durch Fertighäuser ersetzt wurden. Auch sonst war von der einst üppigen Gemüseproduktion der Wartenberger LPG „1. Mai“ wenig übrig geblieben – bei meinem Spaziergang durch den Ortsteil waren mir nur ein paar ruinierte Lagergebäude und zerdepperte Gewächshäuser begegnet. Ein einziger Gärtner, erzählte Martin, baue heute noch Salat im Ortsteil an und beliefere damit die Mc Donald’s- und Discounter-Filialen der Umgebung. So viel zur Halbwertszeit des Sozialismus, dachte ich unwillkürlich.

Martin, der Wirt, hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Jack Sparrow, dem Oberpiraten aus „Fluch der Karibik“. Er trägt lange Zottelhaare, ein rotes Kopftuch, schwarzen Eyeliner sowie zu besonderen Gelegenheiten einen Rüschenfrack nebst rotem Dreizackhut. Es ist ein Outfit, mit dem man auch in zentraleren Berliner Ortsteilen einigermaßen auffallen würde. In Wartenberg könnte es schriller nicht sein.

Aber Martin, der hier aufgewachsen und nie weggegangen ist, grinst nur, wenn er auf sein Äußeres angesprochen wird. „Stimmt schon“, sagt er dann, „Johnny Depp wird eine gewisse Ähnlichkeit mit mir nachgesagt.“ Alles eine Frage des Blickwinkels.

Fläche:

6,92 km² (Platz 53 von 96)

Einwohner: 2486 (Platz 92 von 96)

Durchschnittsalter: 46,3 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Otto von Voß (Gutsbesitzer), Liesel Jacoby (Theaterregisseurin)

Gefühlte Mitte: Lokal Gartenlaube

Alle Folgen

88 Ortsteile hat unser Kolumnist Jens Mühling schon besucht. Alle Folgen von „Mühling kommt rum“ finden Sie unter www.tagesspiegel.de/96malberlin.

Noch mehr Lichtenberg

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