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Das Avus-Denkmal am Messedamm.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Westend: Wo die Winde ostwärts wehen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. NR. 91: Westend.

Fläche: 13,5 km² (Platz 16 von 96)
Einwohner: 41 352 (Platz 31 von 96)
Durchschnittsalter: 47,0 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Conrad Bechmann (Gastwirt), Johannes und Heinrich Quistorp (Bodenspekulanten)
Gefühlte Mitte: Theodor-Heuss-Platz

Das Berliner Westend ist nach dem Londoner West End benannt, sieht aber rund um die gleichnamige S-Bahnstation eher nach dem Londoner East End aus: Eine schmutzgraue Betonbrücke führt über die Gleise hinweg in den Ortsteil hinein, flankiert von Kebab-Buden, dem Friseurladen „Afric Haircare“ und dem „Sleep Cheap Hostel (10€/night)“.

Ost und West sind in Berlin derart politisch überformte Begriffe, dass ihre Bedeutung im stadtplanerischen Kontext etwas aus dem Blick geraten ist. In London war es wie etwas später in Berlin vor allem der vorherrschende Westwind, der den industrialisierten Städten ihre ständisch geprägte Geografie einblies: Die stinkenden Fabriken und dazugehörigen Arbeiterviertel landeten im Osten, die Fabrikeigentümer und Bankiers ließen sich im Westen nieder, wo die dicke Luft des Proletariats selten ankam.

Ein keilförmiges Stück Poshness

So war es auch im Berliner Westend, wo ab den 1860er Jahren ein findiges Entwicklerkonsortium parzellierte Baugrundstücke an den fabrikerzeugten Industrieadel der Stadt verkaufte. Die Villen, die hier in der Folge entstanden, liegen heute im Areal zwischen Spandauer Damm, Reichs- und Königin-Elisabeth-Straße, einem keilförmigen Stück Poshness, das seinem Londoner Vorbild so nahe kommt, wie man ihm in Berlin eben kommen kann. Hier leben und lebten wohl die meisten jener Promibewohner, deren Liste bei Wikipedia die mit Abstand längste unter allen Berliner Ortsteilen ist.

Beim Schlendern durch den Rest des weitläufigen Westends hatte ich den alten Song der Pet Shop Boys im Ohr: West! End! Girls! Dadam-dadam! Irgendwann fing ich an, zu dieser Melodie alle lokalpatriotischen Ladenbezeichnungen vor mich hin zu summen, die mir unterwegs begegneten: West! End! Grill! Dadam-dadam! West! End! Klause! Dadam-dadam! West! End! Velo! Dadam-dadam! West! End! Bestattungen! Dadam-dadam ...

Summend umrundete ich das Olympiastadion, passierte den Funkturm und das Messegelände, lief schließlich am toten ICC vorbei, dessen bizarre Aluminiumsilhouette wie ein gestrandetes Schiffswrack an Berlins Westküste liegt. Rund um das stillgelegte Congress-Centrum schlingt sich einer der irrsten und fußgängerunfreundlichsten Verkehrsknoten der Stadt, auf dessen fahrzeugumtosten Mittelinseln, so munkelt man, schon Menschen beim Warten auf grünes Licht verhungert sein sollen. Voller Mitleid dachte ich an all die armen Handelsvertreterchen, die bei ihren Berliner Messebesuchen auf dem abendlichen Weg vom Ibis-Hotel zum Steakhaus genau hier den Ausbruch lange unterdrückter Nervenleiden erlebt haben dürften.

Am Ende des Tages landete ich im Wiener Conditorei Caffeehaus am U-Bahnhof Neu-Westend. Es liegt gleich neben Butter Lindner und scheint für den gutbetuchten Teil der Westendler Bevölkerung so etwas wie der In-Treffpunkt des Ortsteils zu sein. Wenn man hier Kaffee bestellt, fragen die Kellnerinnen freundlich nach, ob es denn Filter oder Crema sein soll, und wenn man Crema sagt, fühlt sich das nicht ganz comme il faut an. Alle hier tragen Kaschmir oder wenigstens Merinowolle, und alle, wirklich alle, lesen den Tagesspiegel – andere Zeitungen scheint es gar nicht zu geben. Ich trank meinen Crema mit dem Gefühl, im Zuge meiner Ortsteilexpedition endlich auf den heimlichen Westpol der Stadt gestoßen zu sein.

Alle Folgen

91 Ortsteile hat Jens Mühling schon besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin

Noch mehr Westend

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