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Pfaueninsel in Berlin-Wannsee.

© Thilo Rückeis

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wannsee: Wo sich deutsche Kreise schließen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Nr. 87: Wannsee.

Auf dem Kleist-Grabmal am Ufer des Kleinen Wannsees sah ich frische Blumen liegen – ein üppiges Gesteck, geschmackvoll arrangiert und erkennbar teuer, ganz wie der Rest des schönen Villenvororts Wannsee.

Heinrich von Kleists Weg in den Abgrund begann mit Kant und endete mit zwei Schüssen im Schilf. An der reinen Vernunft verzweifelnd, besonders an der Vernunftvergötterung der Franzosen, beschloss der deutsche Dichter, fortan das Herz über das Hirn zu stellen. Es gelang ihm nie ganz, aber doch genug, um sich nachhaltig zu ruinieren, moralisch wie materiell. Am 21. November 1811, kurz nach seinem 34. Geburtstag, schoss Kleist am Kleinen Wannsee seiner Geliebten Henriette Vogel ins Herz und dann sich selbst ins Hirn. Man begrub die beiden Leichen an Ort und Stelle und nicht auf einem Friedhof. So, wie es Selbstmördern gebührte.

Dass nicht nur Kleist, sondern der ganze deutsche Zeitgeist in jener Ära ins Morbide driftete, lässt sich am gegenüberliegenden Ende des Ortsteils besichtigen, auf der Pfaueninsel. Denn auch der Gartenbau löste sich in der Romantik, nicht nur in der deutschen, vom vernunftgeleiteten französischen Vorbild.

Er verwarf das Ideal der symmetrischen Naturbegradigung und zierte seine nunmehr möglichst krumm und schief gehaltenen Landschaften bevorzugt mit jenen künstlichen Ruinen, von denen sich auf der Pfaueninsel gleich drei finden: ein Schloss mit abgebrochener dritter Etage, eine Meierei mit angeknackstem Dach sowie das verwitterte Fragment eines römischen Brunnens. Ich durchschritt diese Landschaft an einem diesigen Novembertag und wähnte mich inmitten eines Caspar-David-Friedrich-Gemäldes.

Die deutsche Romantik in Schutt und Asche

War es nur der herbstliche Wannseewind, der kalt an mein Herz griff, oder lässt sich in Berlins südwestlichstem Ortsteil tatsächlich eine schaurige Parallele im Verlauf der kleistschen und der deutschen Selbstruinierung erahnen? Denn wer die Parklandschaft im Uhrzeigersinn umrundet, landet nach dem Dichtergrab und der Pfaueninsel unweigerlich am Haus der Wannseekonferenz, wo 1942 der Entschluss zur systematischen Auslöschung von elf Millionen Menschenleben gefasst wurde.

Deutschlands romantischer Sonderweg hatte den krassesten Grad seiner Verirrung erreicht, die Ruinierung des Kontinents war in vollem Gange, der Erbfeind Frankreich endlich unterworfen, und inmitten all des Kriegswahnsinns fand der deutsche Geist 1941 noch die Zeit, das Dichter-Grabmal am Wannseeufer mit einer neuen Inschrift zu verzieren, einem Zitat aus Kleists „Prinz von Homburg“: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.“

Dann starb die deutsche Romantik. Es blieb nur Schutt und Asche von ihr. Zu Ruinen haben die Deutschen seitdem ein anderes Verhältnis, zur Todesverklärung ebenfalls – auch wenn ich beim Anblick mancher Wannseevilla den Eindruck nicht los wurde, dass in ihrem Inneren noch der eine oder andere Caspar David Friedrich die Wände ziert.

Als ich nach meiner langen Uhrzeigerrunde um Berlins drittgrößten Ortsteil wieder am Ausgangspunkt ankam, sah ich ein junges Paar vor dem Kleist-Grab stehen – berückend schöne Menschen, innig umschlungen, mit ernsten Gesichtern, schweigend. Mir wurde bang ums Herz.

Fläche:

23,7 km² (Platz 3 von 96)

Einwohner: 10.005 (Platz 78 von 96)

Durchschnittsalter: 47,9 ( Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Max Liebermann (Maler), Heinrich von Kleist und Henriette Vogel (Liebende)

Gefühlte Mitte: Kirche am Stölpchensee

Alle Folgen

87 Ortsteile hat Jens Mühling schon besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter:www.tagesspiegel.de/96malberlin

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