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Die Separatisten: Joachim Elsholz, Dirk Jordan und Manfred Bergmann (von links).

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Schlachtensee: Wo die Separatisten hausen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf Nr. 74½: Schlachtensee.

Vorweg: Es gibt keinen Ortsteil namens Schlachtensee. In der alphabetischen Liste der 96 Berliner Ortsteile folgt auf Rummelsburg (Nr. 74) eigentlich Schmargendorf (Nr. 75), und so hätte es auch in dieser Kolumne sein sollen.

Wäre da nicht dieser Leserbrief gewesen. Er erreichte mich im Juni, gerade war Folge 65 über Nikolassee erschienen, jenen Ortsteil, in dem die westliche Hälfte des Schlachtensees und der gleichnamigen Villenkolonie liegt, während die Osthälfte zum Ortsteil Zehlendorf gehört. Der Leserbriefschreiber sah das anders. Er habe, schrieb er mir, eine Initiative gegründet, die Schlachtensee endlich zum eigenständigem Ortsteil machen wolle.

Ein paar Wochen später stand Dirk Jordan vor mir, der Carles Puigdemont des Berliner Südwestens. Begleitet von zwei anderen Separatisten führte er mich durch den Möchtegern-Ortsteil, vorbei am S-Bahnhof („älter als der von Nikolassee!“), der Villenkolonie („früher gegründet!“), dem Marktplatz („besserer Fisch!“) und der berühmten Commerzbank-Filiale, die 1995 durch einen 20 Meter langen Tunnel ausgeraubt wurde („selbst unsere Diebe sind cleverer!“). Die Komparative prasselten nur so auf mich ein, in allen Punkten triumphierte Schlachtensee über die Ortsteile, aus deren Umklammerung der Kiez befreit werden musste.

Ein vierter Separatist stieß bei einer Pause im „Café Schlacht“ zu uns. Er türmte historische Dokumente auf den Tisch, in denen die Ortsbezeichnung Schlachtensee gleichberechtigt neben Nikolassee und Zehlendorf stand: alte Wanderführer, S-Bahnfahrpläne, Luftkurortbroschüren, Gerichtsanordnungen, Postkarten sowie eine gravierte Stammtischglocke des Ortsvereins Schlachtensee von 1897.

Dass Schlachtensee amtlicherseits nicht als Ortsteil zähle, fügte Dirk Jordan hinzu, habe er selbst überhaupt erst gemerkt, als er für einen Berliner Verlag eine Broschüre über die Stolpersteine des Kiezes zusammenstellte. Man gruppiere solche Veröffentlichungen nach Ortsteilen, erklärte ihm eine Verlagsmitarbeiterin, deshalb könne auf dem Cover leider nicht Schlachtensee stehen. Jordan verlegte sich bereitwillig auf eine Broschüre über die Stolpersteine von Nikolassee – aber der Samen des Separatismus war gepflanzt.

Bei den Umrissen des abzuspaltenden Ortsteils orientiert sich die Initiative an den Grenzen der Evangelischen Kirchengemeinde Schlachtensee, die etwa vier Quadratkilometer umfasst. „Nikolassee und Zehlendorf haben beide um die 19“, erklärte mir Jordan, „die können also gut je zwei abgeben.“ In den Wahlbezirken innerhalb der Kirchgemeindegrenzen sind rund 9600 Stimmberechtigte registriert – zusammen mit den Minderjährigen dürfte Schlachtensee also schätzungsweise 12.000 Einwohner haben.

Auch bei der Bezirksverwaltung war die Initiative mit ihrer Idee schon vorstellig. Die Bürgermeisterin war skeptisch, lässt den Vorschlag aber derzeit prüfen. Kosten, betonte Jordan, würde die Neugründung den Steuerzahler nichts. Nur ein paar Ortsteilschilder müssten aufgestellt werden. „Die zahlen wir gerne selbst.“

Lange zögerte ich, ob ich über die Separatisten von Schlachtensee schreiben sollte. Denn wenn das Schule macht, gibt es demnächst nicht 96 Ortsteile, sondern 120, 150 oder 180 – und ich werde mit dieser Kolumne nie fertig.

Fläche: ca. 4 km²

Einwohner: ca. 12.000

Durchschnittsalter: hoch

Lokalpromis: Willy Brandt (Bundeskanzler), Edith Hancke (Schauspielerin), Günter Pfitzmann (Schauspieler)

Gefühlte Mitte: Marktplatz

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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