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Hommage an Pinselheinrich. Ein Zille-Wandgemälde an der Fischerstraße.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Rummelsburg: Wo die Stasi Kirchen baute

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Folge 74: Rummelsburg.

Drei Kirchen mit komplexer Vergangenheit begegneten mir in Rummelsburg. Eine war als Bastion gegen Umstürze gedacht und geriet zur Bastion von Umstürzlern. Eine andere wurde von der Stasi gebaut. Von der dritten sind nur Spuren im Gras geblieben.

Aber der Reihe nach. Lichtenbergs südlichster Ortsteil zerfällt in drei Kieze. Im Westen, umschlungen von Bahntrassen, liegt die alte Victoriastadt, erbaut als Industrieviertel, zwischen dessen rußenden Schloten und hustenden Proleten Heinrich Zille prägende Jahre verbrachte, viele seiner Milieuzeichnungen pauste er quasi vom Kiez ab.

Dem sozialrevolutionären Geist, der in der späten Kaiserzeit die Gegend erfasste, versuchten Wilhelm II. und seine Gattin Auguste auf die geistliche Tour beizukommen. Zur „Bekämpfung religiös-sittlicher Notstände“ riefen sie den Evangelischen Kirchenbauverein ins Leben, der Berlins Arbeitervierteln mehr als 50 neue Gotteshäuser bescherte (und Auguste den Spitznamen „Kirchen-Juste“). Das erste von ihnen war 1892 die Erlöserkirche in der Rummelsburger Nöldnerstraße.

Die Victoriastadt heißt heute Kaskelkiez

Bekanntlich hielt das kaiserliche Befriedungsprogramm nicht, was sich seine Urheber davon versprachen. Doch auch den Sozialrevolutionären brachte die Erlöserkirche kein Glück – als ein paar Machtwechsel später die Diktatur des DDR-Proletariats schwächelte, wurde ausgerechnet sie zum Zentrum des Lichtenberger Widerstands gegen die SED-Herrschaft.

Der Name Victoriastadt ist kaum noch geläufig, ihre heutigen Bewohner sprechen vom Kaskelkiez. Die einzigen Zille-Charaktere, die mir dort begegneten, waren die Trinker im Park an der Türrschmidtstraße, ansonsten schien die Bevölkerung nach der Wende komplett gewechselt zu haben. Campingbusse parkten in den Straßen, auf den Fensterbänken blühten Sonnenblumen, in den Hausfluren drängten sich Kinderwagen – nicht umsonst hat Rummelsburg das niedrigste Durchschnittsalter aller Ortsteile Berlins.

Die Stasi baute an, die Kirche musste weichen

Weitgehend naturbelassen kam mir dagegen die Bevölkerung des östlichen Weitlingkiezes vor, wo die Trinker verzweifelter aussahen, die Hunde bissiger, die Tätowierungen knastiger. Ich blieb vor einem grauen Zweckbau am Münsterlandplatz stehen, dem wohl einzigen Berliner Gotteshaus, an dessen Bau die Stasi beteiligt war. Als die in den 70er Jahren ihr Gelände an der Normannenstraße ausdehnte, musste die dortige Neuapostolische Kirche weichen – und wurde kurzerhand vom Wachregiment Feliks Dzierzynski in Rummelsburg neu aufgebaut.

Eine dritte Kirche stand einmal auf dem Gefängnisgelände am Nordufer der Rummelsburger Bucht, das sowohl dem Kaiser- als auch dem Nazi- und dem SED-Regime zur Isolierung missliebiger Elemente diente. Die einstigen Lagerbauten sind einem Neubauviertel gewichen. Die Gefängniskapelle wurde abgerissen, ihren einstigen Grundriss vergegenwärtigen nur noch ein paar Büsche und Betonquader. Vor einer Schautafel, die an das Gefangenenlager erinnert, sah ich zwei Fahrradfahrer stehen. Einer studierte die Inschrift und ließ seinen Blick über die etwas steril wirkenden Neubauten schweifen. „Sieht irgendwie immer noch nach Gefängnis aus“, sagte er zu seinem Begleiter.

Fläche: 4,52 km² (Platz 79 von 96)
Einwohner: 22.853 (Platz 50 von 96)
Durchschnittsalter: 35,8 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Heinrich Zille (Maler), Paul und Paula (Filmhelden)
Gefühlte Mitte: S-Bahnhof Nöldnerplatz
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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