zum Hauptinhalt
Unser Autor hat schon einige Stadtteile besucht, wo die Flugzeuge verdächtig niedrig fliegen. Das alles aber war nichts gegen Reinickendorf.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Reinickendorf: Wo der Himmel näher ist

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 71: Reinickendorf.

Meine alphabetische Annäherung an den Flughafen Tegel verlief bisher so: Bei F wie Falkenhagener Feld kamen mir die Flugzeuge schon ziemlich niedrig vor, bei H wie Haselhorst konnte ich mit bloßem Auge die Namen der Airlines auf den Maschinen entziffern, bei N wie Niederschönhausen und P wie Pankow musste ich an den alten Otto-Witz vom Leben an der Autobahn denken („Gibt es irgendwelche Folgeschäden?“ – „Nnnein, nnnein, nnnein!“).

Das alles aber war nichts gegen Reinickendorf.

Kaum einer hebt den Blick, wenn der Schatten einer Maschine über den Tisch rast

Schon als ich am Bahnhof Schönholz aus der S-Bahn stieg, sah ich die Maschinen geisterhaft groß über die Straßenschluchten hinwegziehen. Ich folgte ihrer Flugbahn quer durch den Ortsteil, immer an der Tegel-Einflugschneise entlang. Die Flieger ließen die Einkaufsmeile an der Residenzstraße hinter sich, donnerten zwischen der alten Dorfaue und dem malerischen Schäfersee hindurch, überquerten mit ausgeklapptem Fahrwerk die 20er-Jahre-Wohnblöcke der „Weißen Stadt“. Als ich ihnen bis zum Kurt-Schumacher-Platz gefolgt war, flogen sie so niedrig, dass ich mir einbildete, das Weiße im Auge der Piloten sehen zu können.

Komischerweise schien ich der Einzige zu sein, der von dem Schauspiel Notiz nahm. Am Kutschi, wie der Schumacher-Platz hier genannt wird, gibt es einen Biergarten auf dem Parkhausdach eines Einkaufszentrums, dessen Gäste den Flugzeugen praktisch aufs Cockpitfenster spucken können – aber kaum jemand dort hebt auch nur den Blick vom Glas, wenn der Schatten einer Maschine über die Tische rast.

Manchmal meint man das Weiße in den Augen der Piloten zu erkennen. Komischerweise scheinen die Anwohner das Spektakel kaum noch wahrzunehmen.
Manchmal meint man das Weiße in den Augen der Piloten zu erkennen. Komischerweise scheinen die Anwohner das Spektakel kaum noch wahrzunehmen.

© Jens Mühling

Der letzte Ortsteilzipfel vor den Landebahnen ist ein gemischtes Wohn-, Industrie- und Kleingartenviertel, das abrupt vor der A 111 endet. Am Ende der Meteorstraße führt ein Trampelpfad den Hang hinauf zur Autobahnbrüstung. Ich stellte mich zu ein paar Plane-Spottern, die über die Fahrbahn hinweg den Flugzeugen beim Landen zusahen. „Nur noch eins!“, schrie ein kleiner Junge, an den Hals seines Vaters geklammert. „Noch eins, Papa!“ Der Vater lächelte müde. „Das sagst du seit einer Stunde.“

Tegel dürfe nicht schließen, sagt einer - falls es Krieg gibt

Die Aussichtsplattform war eine Art Kiez-Treffpunkt. Zwei Frauen zerrissen sich das Maul über die Affären einer Nachbarin. Neben ihnen knutschte ein Teenager-Pärchen. Unten auf der Autobahn rasten ab und zu Biker vorbei, die genau vor der Brüstung ihr Vorderrad hochzogen. „Die Strecke ist unser Catwalk“, erklärte mir ein Typ in Motorradkluft. „Weil hier oben immer Publikum steht.“

Einer der Luftfahrtfreunde trug außer einer abgeschnittenen Jeans und einem graublonden Ho-Chi-Minh-Bart nichts am Leib. Er war Ur-Reinickendorfer und erzählte mir, dass er seit 50 Jahren genau in der Einflugschneise lebe. Ich stellte die Frage, die sich aufdrängte: „Gibt es irgendwelche Folgeschäden?“ Er schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil! Wenn der Lärm eines Tages weg wäre, müsste ich ihn mir auf Schallplatte besorgen – ohne den kann ich nicht leben!“ Tegel dürfe auf keinen Fall schließen, fuhr er fort. „Was machen wir denn sonst, wenn’s Krieg gibt? Ich hab so ein Gefühl, dass die bald wieder einen anfangen. Dann brauchen wir den Flughafen – wie soll sonst das Essen in die Stadt kommen?"

Manche Berliner Ängste, dachte ich innerlich, sitzen wirklich tief.

Fläche: 10,5 km² (Platz 31 von 96)

Einwohner: 80 687 (Platz 13 von 96)

Durchschnittsalter: 42,2 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Otto Rudolf Salvisberg (Architekt), Frank Steffel (Füchse-Präsident)

Gefühlte Mitte: Residenzstraße

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false