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Einsamer Gartenzwerg in Rahnsdorf. Immer nah am Wasser.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Rahnsdorf: Wo die Fischer knapper werden

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum. Teil 70: Rahnsdorf.

Ein altes Eisenkreuz steht vor der Dorfkirche von Rahnsdorf. Die eingeprägte Inschrift erzählt vom grausigen Ende eines Müggelseefischers. „Hier ruht in Gott Carl Ludwig Kahlenberg, geb. 9. Januar 1836, ertrank 9. Dezember 1863.“ Und auf der Rückseite: „Das Wasser war mein Sterbebette / Am Abend war mein letzter Tag / Vergebens rief ich: rette! rette! / Weil niemand mich ertrinken sah / Da schlief ich dann in Angst und Pein / So nach und nach im Wasser ein.“ Während des Rests meiner Wanderung bekam ich einen Satz nicht aus dem Ohr, den ich vor Jahren bei Fontane gelesen hatte: „Die Müggel ist bös.“

Vollverschleierte Migranten und vollentschleierte Ossis

Dabei wirkte der See an jenem Tag eher heiter. Auf dem Weg zum Dorfkern war ich am Strandbad Müggelsee vorbeigekommen, der wahrscheinlich einzigen Badestelle der Stadt, wo man sowohl vollverschleierte Migrantinnen als auch vollentschleierte Ossis antrifft – Erstere im Strandcafé, Letztere im FKK-Bereich. Draußen auf dem Wasser stritten sich Windsurfer und Segler brüllend um die Vorfahrt, am Strand hörten Teenager deutschen Arschloch-Rap, kurz: Es war ein Berliner Sommertag, wie er schöner nicht sein konnte.

Draußen auf dem Wasser stritten sich Windsurfer und Segler brüllend um die Vorfahrt, am Strand hörten Teenager deutschen Arschloch-Rap.
Draußen auf dem Wasser stritten sich Windsurfer und Segler brüllend um die Vorfahrt, am Strand hörten Teenager deutschen Arschloch-Rap.

© Jens Mühling

Rund um die Dorfkirche aber erzählten gleich mehrere Gedenksteine Gruselgeschichten von verunglückten Fischern. „Der Müggelsee ist nicht ohne“, bestätigte mir ein älterer Herr, dem ich im Inneren des Gotteshauses begegnete. Er stand auf einer langen Leiter und klaubte mit einer noch längeren Stange Spinnweben aus den Ecken. Seit fast 50 Jahren segelte er über den See, er kannte die plötzlich losbrechenden Stürme, die schon Fontane Angst eingejagt hatten. Wer die Müggel bezwungen hat, dachte ich, der balanciert auch unbekümmert auf Kirchenleitern.

Den tätowiertesten Menschen der Stadt begegnet man in der Mitte - oder ganz am Rand

Die Fischer, denen Rahnsdorf seine Existenz verdankt, sind fast komplett aus dem Ortsteil verschwunden, nur noch ein einziger befährt den See. Am Ufer betreibt er einen Imbiss, der leider nur am Wochenende geöffnet ist. Im Lokal „Neu-Venedig“ dagegen gibt es nur importierten Meeresfisch, serviert von einer Kellnerin, deren Anblick mir bestätigte, was bei meinen Ortsteilwanderungen zur Regel geworden ist: Den tätowiertesten Menschen der Stadt begegnet man entweder ganz in der Mitte oder ganz am Rand.

Die von Kanälen durchzogene Wassersiedlung Neu-Venedig, in der das Lokal liegt, scheint trotz ihres weltläufigen Namens nicht die weltoffenste Ecke Berlins zu sein.

Die Rahnsdorfer legen ein besonderes Augenmerk auf ihre Vorgartendeko.
Die Rahnsdorfer legen ein besonderes Augenmerk auf ihre Vorgartendeko.

© Jens Mühling

„Suchst du was?“, fragte mich ein finster dreinblickender Anwohner, als ich an seinem Garten vorbeilief. Ich verneinte. „Sieht aber so aus“, knurrte er: „Weil du hier über jeden Zaun guckst.“ Ich beschleunigte meine Schritte, hörte aber nicht auf, über jeden Zaun zu gucken. Hundewarnschilder, Deutschlandflaggen und Buchsbaumhecken zogen an mir vorbei, dazwischen ein Kleinwagen mit der Heckscheibenaufschrift „Todesstrafe für Kinderschänder“. Von anderen Berliner Einfamilienhausvierteln scheint sich Neu-Venedig eigentlich nur dadurch zu unterscheiden, dass viele Häuser hier nicht eine, sondern zwei Garagen haben: vorne fürs Auto, hinten fürs Motorboot.

Man sagt über Berlin gerne, dass die Stadt mehr Brücken habe als Venedig. Ich frage mich, was sich die Leute in Venedig über Rahnsdorf erzählen.

Fläche: 21,5 km² (Platz 6 von 96)

Einwohner: 9375 (Platz 79 von 96)

Durchschnittsalter: 48,4 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Andreas Thamm (Fischer),

Ingeborg Hunzinger (Bildhauerin)

Gefühlte Mitte: Fürstenwalder Allee/Ecke Seestraße

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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