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Statue "Die Bogenspannerin" von Ferdinand Lepcke vor dem S-Bahnhof Nikolassee.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Nikolassee: Wo Zelte neben Villen stehen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf Nr. 65: Nikolassee.

Nikolassee besteht zu etwa gleichen Teilen aus Wasser, Bäumen und Geld. Das Wasser findet sich in der Havel sowie im Schlachten- und im namensgebenden Nikolassee, die Bäume stehen im Grunewald, das Geld steckt in den Villen.

Die prächtigsten Villen stehen rund um die Rehwiese, ein altes Flussbett, das früher den Schlachtensee mit dem Nikolassee verband. Dort kam ich mit einem älteren Herrn und einer jüngeren Dame ins Gespräch, die gemeinsam ihre Jagdhunde ausführten. Was es bedeutet, im zentralen Teil von Nikolassee zu leben, mag ein Zitat der jüngeren Dame veranschaulichen. „Schlachtensee ist auch schön“, sagte sie. „Aber da stehen die Häuser schon ein bisschen gedrängter als hier.“

Während die Hunde miteinander balgten, erzählten ihre beiden Besitzer von den illustren Persönlichkeiten des Ortsteils. In der Villa, die heute er selbst bewohne, sagte der ältere Herr, habe vor ihm ein berühmter Musikwissenschaftler gelebt. „Ein Professor! Und das spürt man! Die Musik ist noch in den Wänden! Ich merke das, wenn ich am Klavier sitze!“

Mit Immobiliengesprächen vertreiben sie die Zeit

Ein paar Straßen weiter, erwähnte die jüngere Dame, hätten einst die Großeltern der schwedischen Königin Silvia gehaust. Ganz richtig, sagte der ältere Herr mit wissendem Nicken – und in der Nähe lebe heute der Historiker Heinrich August Winkler. Ach, warf die Dame ein, Winkler, wohne der nicht in dem Haus, in dem früher...? Genau, bekräftigte der Herr, und in der Villa nebenan... Mit solcherlei Immobiliengesprächen vertreiben sich die Nikolasseer beim Hundeausführen die Zeit.

Am nördlichen Ende der Rehwiese steht eine riesige alte Eiche. Unter ihr war ein kleines grünes Zelt aufgeschlagen. Neugierig blieb ich davor stehen. Der Reißverschluss war zugezogen, der Bewohner offenbar nicht zuhause. Das Zelt stand leicht erhöht am Hang des Flussbetts, vom Eingang aus ging der Blick weit hinaus auf die Rehwiese. „Guter Platz“, sagte eine Passantin. Ich fragte sie, ob im Zelt jemand wohne. Sie nickte. „Steht schon ein paar Wochen hier.“ Der Bewohner sei aber sehr diskret – keiner der Nachbarn habe ihn bisher zu Gesicht bekommen, sie selbst auch nicht. „Der soll aber ruhig hier leben“, sagte die Frau. „Ich lasse den in Ruhe. Das könnte schließlich genau so gut ich sein.“

Ob der Zeltbewohner vielleicht ein Aussteiger war?

Der letzte Satz blieb mir lange im Ohr. Ich fragte mich, wie viel Koketterie wohl in ihm steckte, oder ob manchen Villenbewohner hier tatsächlich die heimliche Angst umtrieb, zum Zeltbewohner absteigen zu können. Ich fragte mich, ob der Zeltbewohner seinerseits davon träumte, zum Villenbewohner aufzusteigen, und welches von beiden Szenarien wohl das unwahrscheinlichere war, und wer uns eigentlich unsere Rollen im Leben und unsere Plätze in der Stadt zuweist, und ob der Zeltbewohner vielleicht ein Aussteiger war, der das Villenleben satt hatte, oder ein religiöser Eremit, vielleicht gar ein Wiedergänger des heiligen Nikolaus von Myra, dem der Ortsteil und der Nikolassee ihren Namen verdanken...?

Noch mehrmals im Laufe des Tages kehrte ich zum Zelt zurück, aber der Bewohner zeigte sich nicht. Vielleicht, dachte ich am Ende, war das Zelt auch einfach leer, und ein Schelm hatte es hier aufgestellt, um die Nikolasseer zum Nachdenken zu bringen.

Fläche: 19,6 km² (Platz 8 von 96)

Einwohner: 15 941 (Platz 65 von 96)

Durchschnittsalter: 46,2 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Henning Schröder (Ortsteilchronist), Willy Brandt (Bundeskanzler)

Gefühlte Mitte: S-Bahnhof Nikolassee

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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