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Im Angebot. An der Karl-Marx-Straße kann der Neuköllner alles kaufen, was er zum Leben braucht.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Neukölln: Wo die Liebe schriller klingt

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 62: Neukölln.

In Neukölln lag meine erste Berliner Wohnung. Ich zahlte 250 Mark im Monat für ein Hinterhofzimmer mit Küche und Bad. Die Wohnung war dunkel und nur mit Kohle zu heizen, aber ich war jung und brauchte das Geld für wichtigere Sachen.

Neukölln, liebe Kinder, war damals, in den 90er Jahren, noch ein sehr anderer Ortsteil als heute. Es gab dort weder Kunstgalerien noch veganes Essen noch Start-up-Büros, sondern nur düstere Eckspelunken und türkische Spielercafés. Als Student, der ich damals war, gab man nicht gerne zu, in Neukölln zu wohnen – lieber murmelte man unbestimmt, man lebe „nicht weit weg vom Paul-Lincke-Ufer“. Das war nicht einmal gelogen, denn meine Wohnung lag in der Tellstraße, einer kurzen Seitenstraße der Sonnenallee. Mitten in Kreuzkölln, würde man heute sagen, aber bis dieses Kunstwort geläufig wurde, sollte noch viel Wasser den Landwehrkanal hinabfließen.

Die Hauswartin war eine ruppige Frau

Über mir wohnte damals die Hauswartin. Jeden Morgen, wenn ihr Mann die Wohnung verließ, um zur Arbeit zu gehen, rief die Hauswartin ihm quer über den Hof einen Abschiedsgruß hinterher: „Ich liebe dich!“, rief sie, aber aus ihrem berlinischen Mund klang der Satz, den die Hinterhofwände dröhnend verstärkten, ungefähr so: „KLIEBEDÖÖÖSCH!“ Dieses „KLIEBEDÖÖÖSCH!“, das mich morgens regelmäßig aus dem Schlaf riss, war für mich der Sound von Neukölln.

Die Hauswartin war eine ruppige Frau. Ich erinnere mich gut daran, wie sich eines Frühlingstages vor meinem Badezimmerfenster ein Taubenpaar einnistete. „Det sind die Ratten der Lüfte!“, erklärte mir die Hauswartin keifend. „Machen Sie det sofort weg!“ Ich brachte es nicht über mich. Im Nest lagen Eier.

Ein paar Tage später folgte auf das vertraute morgendliche „KLIEBEDÖÖÖSCH!“ ein merkwürdiges Kratzgeräusch. Beunruhigt stürmte ich ins Bad – und sah, wie von oben ein langer Besen hinabfuhr und das Nest von der Fensterbank schubste. Die Eier zerplatzten im Hof, die Tauben kreisten noch Tage später verstört über der Tellstraße. Als ich kurz darauf von Neukölln nach England zog, war ich froh, der Hauswartin nicht mehr in die Augen sehen zu müssen.

Er lächelte unsicher, als halte er eher mich für irre

Warum ich das alles erzähle? Weil es mich bei meinem Besuch des Ortsteils Neukölln natürlich in die Tellstraße zog. Ich erkannte sie nicht wieder. Verschwunden waren die Eckspelunken und Spielercafés, stattdessen hatte im Nebenhaus ein Co-Working-Space eröffnet, vor dem ein junger Computermensch mit rotem Holzfällerbart eine E-Zigarette rauchte. Ich erzählte ihm, dass ich hier mal gewohnt hatte, vor 20 Jahren, für 250 Mark, irre, oder? Er lächelte unsicher, als halte er eher mich für irre.

Ich staunte, als ich am Klingelschild meines alten Hauses den Namen der Hauswartin entdeckte. Ich war davon ausgegangen, dass der Besen der Neuköllner Gentrifizierung sie schon lange aus ihrem Nest geschubst haben musste. Dass ich mich geirrt hatte, machte mich froh. Ich verließ die Tellstraße in der Hoffnung, dass die Hauswartin ihrem Mann noch immer ihr „KLIEBEDÖÖÖSCH!“ hinterherbrüllt – und dass sie einen Scheiß darauf gibt, was die Spanier davon halten, deren Namen heute auf meinem Briefkasten stehen.

Fläche: 11,7 km² (Platz 24 von 96)
Einwohner: 167 248 (Platz 1 von 96)
Durchschnittsalter: 37,1 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Franz Körner (Parkstifter), Friedrich Ludwig Jahn (Turnvater)
Gefühlte Mitte: Rathaus Neukölln
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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