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Wer im Route 66 Room übernachtet, kann nebenan seinen Wagen pflegen lassen.

© Jans Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Müggelheim: Wo sich Ost und West begegnen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 60: Müggelheim.

Am nordwestlichen Ende des Müggelheimer Dorfangers steht eine Gedenktafel: „Müggelheim: Am 1. Juni 1747 von 20 Familien aus Odernheim/Pfalz gegründet.“ Irgendwie versetzte mich dieser kurze Text in Western-Stimmung. Ich sah die pfälzischen Siedler vor mir, wie sie, Wind und Wetter trotzend, unbeirrbar gen Osten zogen, in Planwagen, dem Ruf eines preußischen Sheriffs folgend, der ihnen das Blaue vom märkischen Himmel versprochen hatte.

Am gegenüberliegenden Ende des Dorfangers, dem südöstlichen, steht ein zweites Denkmal. Auf dem Stein ist zu lesen: „Dem Begründer der Internationalen Erdmessung: Johann Jacob Baeyer aus Müggelheim.“ Ein stilisierter Erdball zeigt das Netz aus Längen- und Breitengraden, das Baeyer als Mitentwickler der europäischen Geodäsie entscheidend prägte – seine Ideen eroberten vom märkischen Osten aus den Westen.

Während ich weiter durch Müggelheim lief, vorbei an niedrigen Einfamilienhäusern unter stattlichen Kiefern, machte ich mir Gedanken über den Westen und den Osten, Gedanken, wie sie einen in Berlin so oft beschäftigen, geosoziale Gedanken sozusagen. Bis ich plötzlich vor einem Schild mit der Aufschrift „Downtown Garage & Motel“ stand. Ein dicker alter Chevy-Pickup parkte vor dem Eingang. Neugierig betrat ich das Werkstattgelände.

Eine irre Welle der West-Euphorie

Drinnen lernte ich zwei West-Enthusiasten kennen, die es kurz nach dem deutschen Ost-Ende zum ersten Mal nach Kalifornien verschlagen hatte. „Entweder man liebt det oder nich“, erklärte mir Antje Werbelow. Die beiden liebten es, weshalb Christian Blaudschuk, der schon in der DDR an Autos geschraubt hatte, bald klassische amerikanische Achtzylinder nach Müggelheim importierte, imposante Muscle Cars, wie sie in der Downtown Garage heute den Innenhof füllen. Seine Frau richtete dazu ein Motel mit sechs unterschiedlich ausstaffierten Themenzimmern ein, vom California Room bis zum Route 66 Room, in denen nun Motor-Freaks aus der ganzen Region übernachten, während nebenan ihre Wagen gepflegt werden. Ein Diner, in dem zu Country-Klängen voluminöse Burger serviert werden, komplettiert das Ensemble.

Wenn man lange genug nach Osten geht, kommt man wieder in den Westen.
Wenn man lange genug nach Osten geht, kommt man wieder in den Westen.

© Jens Mühling

Plötzlich fielen mir die Line-Dancer ein, denen ich ein paar Monate zuvor in einem Western-Restaurant in Grünau beim Üben zugesehen hatte, und der Grillmeister, der mir in der Barbecue-Kantine des Heinersdorfer Industriegebiets begegnet war, und all die anderen US-Begeisterten in den ehemaligen DDR-Ortsteilen. Nach der Wende muss durch den Osten eine irre Welle der West-Euphorie geschwappt sein.

Östlich des Müggelheimer Dorfkerns entdeckte ich dann noch einen verwunschenen kleinen Waldsee namens Krumme Lake – nicht zu verwechseln mit der Krummen Lanke am gegenüberliegenden Ende der Stadt.

Als ich von dort aus schließlich zurück in Richtung Dorfanger lief, kam ich noch einmal am Denkmal für den Geodäten Baeyer vorbei. Mit dem Finger zeichnete ich die Breitengrade auf dem Globus nach, der den Gedenkstein krönt. Folgt man den Linien nur weit genug nach Osten, landet man irgendwann wieder auf der anderen Seite des Erdballs, im Westen.

Fläche: 22,2 km² (Platz 5 von 96)
Einwohner: 6589 (Platz 85 von 96)
Durchschnittsalter: 48,4 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Johann Jacob Baeyer (Geodät), Curt Grottewitz (Schriftsteller)
Gefühlte Mitte: Dorfanger
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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