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Genau austariert: Mittes geografischer Mittelpunkt ist eine Baustelle.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Mitte: Wo Berlin sein Herz verlor

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 58: Mitte.

Mitten in Berlin liegt der Bezirk Mitte. Er besteht aus sechs Ortsteilen, von denen einer genauso heißt wie der Bezirk, nämlich Mitte. Schon allein wegen dieses doppelten Fingerzeigs landen die meisten Touristen unweigerlich in Mitte-Mitte, wenn sie das Zentrum der Stadt suchen – irgendwo zwischen Alex, Gendarmenmarkt, Brandenburger Tor und Scheunenviertel wähnen sie Berlins Herz.

Wo aber, fragte ich mich, bevor ich aufbrach, liegt eigentlich die Mitte von Mitte-Mitte?

Beim Bezirksamt konnte mir das auf Anhieb niemand sagen. Der geografische Mittelpunkt des Ortsteils Mitte, wurde mir schriftlich beschieden, sei keine auf Anhieb verfügbare Größe, man müsse ihn vom Fachbereich Kataster und Vermessung ermitteln lassen. Offenbar war ich der Erste, der sich je für diese Frage interessiert hatte.

Die Antwort kam in Form geografischer Koordinaten: 13° 23’ 52.2670“ E, 52° 31’ 16.6707“ N. An diesem Punkt, erklärte mir ein Mitarbeiter des Vermessungsamts, könnte man ein Holzbrett mit den Umrissen des Ortsteils Mitte auf einem Finger balancieren. Der Mann war so nett, mir den Punkt auf einer Berlin-Karte einzuzeichnen. Das Kreuz markierte eine Stelle im Nordosten der Museumsinsel, auf einer kleinen Freifläche hinter der Alten Nationalgalerie. Neugierig machte ich mich auf den Weg.

Berlins Mitte ist eine Baustelle. Nicht jeder kommt rein

Ein paar Spanier ließen im Säulengang der Alten Nationalgalerie einen Joint kreisen, junge Touristinnen fotografierten sich selbst vor den Skulpturen im Museumshof. Näher kam ich dem Mittelpunkt von Mitte leider nicht, zwischen Nationalgalerie und Säulengang schnitt mir ein Zaun den Weg ab. „Unbefugten ist der Zutritt nicht gestattet“, stand auf einem Schild. Ich versuchte, mich einem misstrauischen Pförtner als befugt zu empfehlen, aber er erklärte mir, dass hinter dem Zaun eine Baustelle liege, die nur mit Genehmigung des Museums zu betreten sei.

Berlins Mitte, dachte ich, ist also erstens eine Baustelle, und zweitens kommt nicht jeder rein. Es klang nach einer Mischung aus 90er-Jahre-Nostalgie und Berghain-Gegenwart.

Ich beantragte eine Genehmigung. Während ich auf sie wartete, telefonierte ich mit einem Mitarbeiter der Museums-Bauplanung, der mir erklärte, was hinter der Alten Nationalgalerie derzeit im Gange ist. An der Rückseite des Pergamonmuseums wird gewerkelt, außerdem soll demnächst der hintere, derzeit zugemauerte Teil des Spree-Säulengangs freigelegt werden. Etwa ab Herbst 2020 wird die umgestaltete Freifläche dann öffentlich zugänglich sein – und mit ihr der Mittelpunkt von Mitte.

Eines schönen Donnerstags war es schließlich so weit: Mit einem Baustellenausweis betrat ich Berlins heimliches Zentrum. Auf der Freifläche wurde gerade eine unterirdische Starkstromleitung verlegt, ein Bohrkran durchbrach unter höllischem Lärm die Asphaltdecke. Im Norden sah ich S-Bahnen über die nahe Inselbrücke rumpeln. Von dort aus kann man, wie ich später ausprobierte, im Vorbeifahren auch als Unbefugter einen kurzen Blick auf die Mitte von Mitte erhaschen.

Viel zu sehen gibt es dort freilich nicht. Berlins Herz ist ein nacktes Stück Asphalt.

Fläche: 10,7 km² (Platz 27 von 96)
Einwohner: 93 144 (Platz 9 von 96)
Durchschnittsalter: 40,4 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Nofretete (Ägypterin), Friedrich August Stüler (Architekt)
Mitte: 13°23’52.2670“E,52°31’16.6707“N
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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