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Versuchung auf dem Dorfanger. Graffito in Marienfelde.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Marienfelde: Wo die Lager länger leben

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Folge 55: Marienfelde

Gleich neben dem S-Bahnhof Marienfelde steht ein kleines Denkmal. Es ist aus Metall und sieht auf eine altmodische Art futuristisch aus, etwa so, wie man sich in der Gründerzeit wohl die Zukunft vorstellte: stählern und kantig. Eine gestanzte Inschrift erinnert an einen historischen Marienfelde-Moment: „Am 28.10.1903 fuhr ein AEG-Drehstromtriebwagen den Geschwindigkeitsweltrekord von 210,2 km/h.“

Ein gutes Jahrhundert ist das her. Es war der erste Temporekord, der in Marienfelde aufgestellt wurde – und auch der letzte, wie ich nach meinem Besuch am stillen südlichen Stadtrand fürchte.

Außer dem Denkmal gibt es am S-Bahnhof eine Bäckerei namens „Morgenfrische“ und eine Zahnarztpraxis namens „Salto Orthodontale“. Ich entschied mich für die Bäckerei. Die Verkäuferin dort erzählte mir, dass sie Marienfelde nur selten verlasse, weil Berlin ihr zu aggressiv geworden sei. „Merkt man sofort, wenn man in die Stadt reinfährt – nach Lankwitz oder so.“ Innerlich musste ich lachen, weil mir in Lankwitz wenige Wochen zuvor ein Dönerverkäufer erzählt hatte, dass er die Stadt ab Steglitz unerträglich finde. Ich freue mich schon auf den Steglitzer, der sich bei mir über Wilmersdorf beklagt.

1,35 Millionen DDR-Flüchtlinge kamen hier unter

Ansonsten hat Marienfelde viele Einfamilienhäuser, ein traditionsreiches Industriegebiet, die wahrscheinlich älteste Dorfkirche der Stadt und ein riesiges Notaufnahmelager. In Letzterem kamen bis zum Mauerfall insgesamt 1,35 Millionen geflohene DDR-Bürger unter. Nach der Wende sah es erst so aus, als werde das Lager nicht mehr gebraucht, aber dann kamen, wie mir eine Mitarbeiterin erzählte, die russlanddeutschen Spätaussiedler und nach ihnen die Kriegsflüchtlinge aus Tschetschenien und dann die Afghanen und schließlich die Syrer, weshalb das Lager bis heute ein Lager ist, auch wenn es inzwischen Übergangswohnheim heißt.

Ein Teil des Gebäudes wurde nach der Wiedervereinigung zur Gedenkstätte umgewandelt. In den Ausstellungsräumen drang plötzlich eine unverwechselbare Fistelstimme an mein Ohr. „Ich bin der Meinung, Genossen“, fistelte Walter Ulbricht, „mit der Monotonie des ,Yeah yeah yeah', und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen! Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen?“ Gelächter quittierte die Ulbricht-Sätze. Erst jetzt begriff ich, dass ein stimmimitatorisch begabter Gedenkstättengast den Text von einer Ausstellungstafel abgelesen hatte – zur Freude seiner drei Begleiter.

Sie denkt gerne an den Winter im Auffanglager zurück

Als ich mit den vieren ins Gespräch kam, stellten sie sich als eine Schriftstellertruppe namens „Freedrichshagener Kleeblatt“ heraus. Zwei von ihnen, ein Ex-DDR-Bürger und eine Ex-Sowjetbürgerin, hatten vorübergehend im Notaufnahmelager gelebt – der Ostdeutsche vor der Wende, die Russlanddeutsche danach. Die anderen beiden waren aus schriftstellerischer Neugier mit in die Gedenkstätte gekommen.

Wolfgang, der Ulbricht-Imitator, hatte nur kurz im Lager gelebt. Lena dagegen, die Russlanddeutsche, hatte etwas mehr Zeit hier verbracht. Sie dachte gerne an jenen Winter zurück. Bei der Eingewöhnung in Deutschland hatte ihr damals ein guter Freund geholfen: Heinrich Heine. „Marienfelde“, sagte Lena, „war mein Wintermärchen.“

Fläche: 9,15 km² (Platz 40 von 96)
Einwohner: 32.131 (Platz 41 von 96)
Durchschnittsalter: 45,4 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Bruno Möhring (Architekt), Adolf Kiepert (Gutsbesitzer)
Gefühlte Mitte: Jörgs Currycontainer
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 7. April 2018 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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