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Ganz Mahlsdorf ist von der Gründerzeit besessen. Ganz Mahlsdorf? Nein.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Mahlsdorf: Wo die Kneipe im Museum steht

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 52: Mahlsdorf.

Die für Berlin so prägende Gründerzeit ist zuletzt etwas aus dem Blick geraten. Statt auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert starrt im „Babylon Berlin“-Fieber die ganze Stadt auf die wild-glamourösen 20er und düster-glamourösen 30er Jahre. Die ganze Stadt? Nein! Ein kleiner Ortsteil namens Mahlsdorf hält die Erinnerung daran wach, dass es die Gründerzeit war, die mit ihrem Industrialisierungseifer die wirtschaftliche Grundlage für die Party danach schuf.

Zusammen mit ein paar anderen Besuchern bestaunte ich im Gründerzeitmuseum am Hultschiner Damm Gründerzeitspazierstöcke, Gründerzeitwecker, Gründerzeitwandtelefone, Gründerzeitbowleschalen sowie alle nur erdenklichen Arten von automatischen Musikinstrumenten: Grammofone, Pianolas, Drehorgeln, sogar ein wandschrankgroßes Orchestreon, in dem sich eine selbsttätige Mandoline, ein Schlagzeug, ein Klavier und ein Xylofon verbargen. Gründerzeitdielen bedeckten den Boden, Gründerzeittapeten die Wände, Gründerzeitstuck die Decke. Selbst eine komplette Gründerzeitkneipe inklusive Hurenstube findet sich im Museum: die „Mulackritze“, deren Inneneinrichtung einst in der gleichnamigen Straße im Scheunenviertel stand.

In Frauenkleidung zog er den Karren durch die zerbombte Stadt

Zusammengetragen hat diese erstaunliche Sammlung ein Mensch, über den sich schwer schreiben lässt, weil die deutsche Sprache Menschen nur in männlicher oder weiblicher Ausführung gerecht wird, aber nicht beides gleichzeitig. Und Lothar Berfelde war nun einmal gleichzeitig Charlotte von Mahlsdorf. In Frauenkleidung zog er in der Nachkriegszeit durch die zerbombte Stadt, um Gründerzeitutensilien zusammenzutragen und sie per Handkarren ins ramponierte Gutshaus von Mahlsdorf zu transportieren, wo der wohl einzige prominente Crossdresser der DDR 1960 das wohl einzige private Museum der DDR eröffnete.

Ein paar hundert Meter nördlich des Museums, in der Hönower Straße, kam ich mit einem Antiquitätenhändler ins Gespräch, der die 2002 verstorbene Charlotte von Mahlsdorf noch gekannt hatte. Als Kind, erzählte er, sei er in der Nähe des alten Gutshauses zur Schule gegangen. Natürlich hätten er und seine Klassenkameraden immer gelacht, wenn sie auf der Straße diesem merkwürdigen Menschen begegneten, der auf Hackenschuhen seinen Handkarren durch Mahlsdorf zog. „Aber alles, was ich über Möbel weiß, weiß ich von Charlotte“, fügte der Mann ehrfurchtsvoll hinzu. Noch in der Schulzeit hatte er sich bei Besuchen des Museums mit seinen Eltern in den Stil der Gründerzeit verliebt, den er später zu seinem Beruf machte.

Am Sonntag, dem 18. März, wäre Charlotte von Mahlsdorf 90 Jahre alt geworden. In einem Neubauviertel auf der östlichen Seite des Hultschiner Damms soll aus diesem Anlass eine Straße nach ihr benannt werden. Als ich die dortigen Einfamilienhäuser mit ihrer eklektischen Baumarktdekoration sah, war ich mir nicht sicher, ob man der Stilpuristin der Gründerzeit damit wirklich einen Gefallen tut. Plastikrehe, griechische Statuen und römische Säulen schmückten die Vorgärten. Der Stilmix war kein schöner Anblick – aber irgendwie fand ich ihn nach der Einheitsästhetik des Museums auch ein bisschen befreiend.

Fläche: 12,9 km² (Platz 18 von 96)
Einwohner: 27945 (Platz 46 von 96)
Durchschnittsalter: 46,7 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Frank Schöbel (Sänger), Mario und Sebastian Czaja (CDU-/FDP-Politiker)
Gefühlte Mitte: Gutshaus Mahlsdorf
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 17. März 2018 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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