zum Hauptinhalt
Skulptur vor einer der Nachkriegsbauten, die im Hansaviertel 1957 zur Internationalen Bauausstellung errichtet wurden.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Hansaviertel: Wo die Linie 1 ewig fährt

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 33: Hansaviertel

Er stand am oberen Ende der Treppe, die von der Lessingbrücke zum Ufer führt: ein gebeugter alter Mann, in der rechten Hand einen Gehstock, in der linken eine Plastiktüte. Ich trug ihm die Einkäufe die Stufen hinab, und als ich sah, wie schwer ihm das Treppensteigen fiel, begleitete ich ihn weiter bis nach Hause. Alle paar Meter blieb er stehen, um sich zu bedanken – er konnte entweder sprechen oder laufen, nicht beides gleichzeitig, und beides nur sehr langsam. Für die 200 Meter bis zu seiner Haustür brauchten wir eine gute halbe Stunde.

Irgendwann fiel ich in eine Art Trance

Er war 90 Jahre alt. Ich fragte ihn, ob er schon vor dem Krieg im Hansaviertel gelebt hatte – in jenem untergegangenen Kiez, den ich nur von Fotos kannte. Er schüttelte den Kopf. „Als Kind“, sagte er stockend, „bin ich einmal hier durchgefahren ... in dem Wagen, den wir damals hatten ...“ Ich hoffte auf Details, aber im nächsten Satz schien er vergessen zu haben, worüber wir gesprochen hatten, stattdessen zählte er die Autos auf, die er in seinem Leben gefahren war. Je schneller die Modelle wurden, desto langsamer kamen wir voran. Irgendwann fiel ich in eine Art Trance – die Zeit zerfaserte, der Raum löste sich auf, vor meinem inneren Auge sah ich den alten Mann und mich in wechselnden Autos durch Berlins Vergangenheit fahren.

Wir saßen im Fond einer schwarzen Vorkriegslimousine, an deren Fenstern das alte Hansaviertel vorbeizog, jenes „wichtigste Zentrum des jüdischen Lebens in Berlin“, als das es 1938 der Rabbi Jechiel Weinberg bezeichnete, kurz bevor die Synagoge in der Lessingstraße niedergebrannt wurde. So viele Juden müssen in jener Zeit aus den Straßen zwischen Tiergarten und Spree verschwunden sein, dass man Berlins kleinsten Ortsteil heute lückenlos mit Stolpersteinen pflastern könnte.

In einem VW Käfer umkurvten wir die Baukräne

Als unser Wagen um die nächste Ecke bog, brannte das Viertel lichterloh. Der Krieg war in seiner Endphase, der Bombenhagel riss nicht ab, die Hitze der Feuersbrunst trieb die Menschen in den nahen Tiergarten. Als sie wieder heraustraten, war vom alten Hansaviertel so gut wie nichts übrig. In einem VW Käfer umkurvten wir die Baukräne, die 1957 über dem Brachland aufragten. Die Trümmer waren beseitigt, die westliche Architekturwelt pilgerte zur Internationalen Bauausstellung und füllte das Viertel mit jenen ikonischen Bauten der Nachkriegsmoderne, die es bis heute prägen.

Es war 1986, im Theater lief "Linie 1"

Aus dem Käfer wurde ein Golf, während die einst so umjubelten Hochhäuser den Charme ihrer Anfangsjahre verloren und immer schwerer von den Betonburgen zu unterscheiden waren, die auch im Rest der Bundesrepublik die sozial schwächeren Viertel kennzeichneten. Die Wohnungen des Hansaviertels füllten sich mit türkischen Gastarbeitern, als sich unser Golf in einen E-Klasse-Mercedes verwandelte, hinter dessen Kühlerstern ich das Grips-Theater am Hansaplatz aufblitzen sah. Es war 1986, im Theater lief „Linie 1“, und als die Mauer fiel, lief immer noch „Linie 1“, und als wir in die Jetzt-Zeit einbogen immer noch, und ich hatte das Gefühl, dass die Jahre und Autos kommen und gehen, aber immer wird im Grips-Theater „Linie 1“ laufen.

Wir erreichten die Haustür des Mannes. Sein letztes Auto, einen Audi, fuhr er schon lang nicht mehr.

Fläche: 0.53 km² (Platz 96 von 96)

Einwohner: 5710 (Platz 88 von 96)

Durchschnittsalter: 44.6 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Walter Gropius, Oscar Niemeyer, Max Taut (Architekten)

Gefühlte Mitte: Hansaplatz

Alle Folgen: www.tagesspiegel.de/96malberlin

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false