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96 Ortsteile zählt Berlin. Manche hätten hier oder da gerne noch einen mehr.

© Bartel/Tsp

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Haltestellen fürs Heimatgefühl

Tagesspiegel-Kolumnist Jens Mühling hat alle Bezirke besucht. Es könnten noch ein paar mehr werden. Mit der Stadt wächst das Bedürfnis nach lokaler Identität.

Berlin hat 96 Ortsteile, die eigentlich nichts zu bedeuten haben. Es gibt dort keine Bürgermeister und keine eigene Verwaltung, nicht einmal die Postleitzahlen zeichnen ihre Grenzen verlässlich nach. Aber sind sie wirklich nur das Phänomen mit den grünen Hinweisschildern am Straßenrand? Jens Mühling hat für den Tagesspiegel in den vergangenen zwei Jahren eine Art kleinen Jakobsweg durch Berlin absolviert, hat jeden einzelnen Ortsteil besucht, um herauszufinden, was die Menschen dort bewegt, um Unterschiede und Ähnlichkeiten zu beschreiben.

Sicher war er nicht der Erste, der das gemacht hat, es mögen Freizeitradler oder Heimatforscher vor ihm in der Spur gewesen sein, und auch die RBB-Abendschau hat sich vor einigen Jahren das komplette Programm auferlegt – jedoch mit verschiedenen Autoren.

Aber: Mühling hat unser Augenmerk wieder auf das Thema gerichtet, hat nach der Identität der Ortsteile und ihrer Bewohner geforscht.

Der Ortsteil ist es, der Identität und gefühlte Nachbarschaft stiftet

Dass diese Identität nicht in Stein gemeißelt ist und die Bewohner nicht nur passiv hinnehmen, dass sie in Buch oder Friedenau oder sonst wo wohnen, sondern sich gegebenenfalls auch andere Grenzen setzen wollen – das hat sich zuletzt 2012 in Reinickendorf gezeigt. Dort befreiten sich die Borsigwalder mit friedlichem Separatismus von der Zuordnung zu Wittenau und gründeten den (bislang) 96. Berliner Ortsteil. Wer solche Ziele anstrebt, obwohl ihr Charakter rein symbolisch ist und keinerlei materielle Vorteile verspricht, der will etwas ganz Bestimmtes: Seine Heimat besser, genauer definieren.

Riskieren wir die These: Der Ortsteil ist es, der Identität und gefühlte Nachbarschaft stiftet im Berliner Bezirksgewimmel. Seine Bedeutung hat vielleicht noch gewonnen, seit die Bezirksreform 2001 die traditionellen, vertrauten Bezirke weitgehend aufgelöst und als Identifikationsräume in gewisser Weise zerstört hat. Pankow reicht seitdem von Prenzlauer Berg bis nach Buch, Treptow-Köpenick von Alt-Treptow bis Schmöckwitz. Das sind Welten – und nur zwei Beispiele von vielen, bei denen wir vermuten dürfen, dass die meisten Bewohner des einen Ortsteils den anderen eventuell wahrgenommen, aber nie bewusst besucht haben.

Der größte Berliner Ortsteil, Neukölln, hat 167 000 Einwohner

Natürlich sind die Berliner Ortsteile nicht das gleichmäßige Puzzle, zu dem wir sie in der Illustration zu unserer Serie grafisch vereinfacht haben. Der größte Berliner Ortsteil, Neukölln, hat etwa 167 000 Einwohner, das liegt irgendwo zwischen Oldenburg und Ludwigshafen, zwei Städten, die einen eigenen Oberbürgermeister haben und die komplette Verwaltung einer großen Stadt mit Polizei, Gerichten und allem Drum und Dran.

Auf der anderen Seite steht Malchow mit gut 600 Einwohnern, das die meisten Berliner wohl nur dem Namen nach kennen. Und dass Malchow zu Lichtenberg gehört, während die auch nur knapp doppelt so große Stadtrandsiedlung Malchow westlich davon ein Ortsteil Pankows ist – das ist ein Schmankerl für Verwaltungs- und Heimatkunde-Gourmets. Andererseits: Den Menschen, die dort wohnen, ist die symbolische Eigenständigkeit vermutlich nicht egal. Umgekehrt dürften an den Rändern der großen Ortsteile gewisse Zentrifugalkräfte zerren, wie der inzwischen weitgehend abgenutzte Begriff „Kreuzkölln“ für die Nordecke Neuköllns gezeigt hat.

Steht eine Abspaltung der Rummelsburger Bucht bevor?

Tatsächlich gibt es einen riesigen Unterschied zwischen den jungbürgerlichen Altbauvierteln südlich des Landwehrkanals und der arabisch geprägten Sonnenallee, aber durch die Gentrifikation sind die Sozialstrukturen hier wie dort in Bewegung. Eher könnte man sich zum Beispiel vorstellen, dass die Eleganz der Rummelsburger Bucht künftig auf eine Abspaltung vom Ortsteil Rummelsburg in Lichtenberg hinausläuft. Berlin verfügt natürlich auch über einzelne historisch gewachsene Ecken, die wir dem wenig populären Begriff „Ortslage“ unterordnen. Victoriastadt und Weitlingkiez – um in Lichtenberg zu bleiben – sind beispielsweise so etwas, oder das winzige, Konradshöhe zugeschlagene Tegelort in Reinickendorf. Die Graefestraße in Kreuzberg oder der Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg sind die Mittelpunkte noch kleinerer Einheiten, die wir dann allesamt als Kiez bezeichnen, weil wir ihnen einen ganz speziellen Charakter zuordnen.

Zwei Bezirke, die wegen ihrer Größe von der Reform 2001 ausgenommen blieben, zeigen besonders deutlich, wie wichtig die Zuordnung zu Ortsteilen für ihre Bewohner und deren Lebensgefühl ist, Reinickendorf und Spandau. Reinickendorf: Nichts außer der verwaltungsmäßigen Klammer verbindet beispielsweise die eher an Wedding erinnernde Gegend an der Provinzstraße im Ortsteil Reinickendorf mit dem von Hochhäusern dominierten Märkischen Viertel oder der diskreten, geradezu hanseatischen Eleganz von Frohnau und Hermsdorf ganz im Norden.

Was hat die Badstraße in Gesundbrunnen schon mit dem Gendarmenmarkt zu tun?

Oder Spandau: Die grünen Villenviertel Gatow und Kladow teilen so gut wie nichts außer der Verwaltung mit der Großsiedlung Falkenhagener Feld oder mit Siemensstadt, das viele Außenstehende vermutlich gar nicht als Teil Spandaus identifizieren können, weil es wie Haselhorst östlich der Havel liegt. Auch in der Innenstadt ist das so: Was hat die Badstraße in Gesundbrunnen schon mit dem Gendarmenmarkt zu tun, außer, dass beide zu Mitte gehören?

Es ist Bewegung in der Stadt. Es wird – allen Unkenrufen zum Trotz – viel gebaut, es entstehen neue Quartiere mit einem Charakter, der sie von ihrer Umgebung abhebt wie an der Rummelsburger Bucht. Ob und wie lange es also bei 96 Ortsteilen bleibt, ist völlig offen. Wichtig ist aber jeder einzelne von ihnen.

„Mühling kommt rum“: Alle 96 Kolumnen von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf finden Sie unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin

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