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Die ganz großen Regatten werden auf der Dahme nicht mehr ausgetragen.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Grünau: Wo die Alten Karten kloppen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 29: Grünau.

Wenn man nur lange genug nach Osten läuft, landet man im Westen. Klingt wie eine asiatische Weisheit, aber die Erkenntnis kam mir im amerikanisch inspirierten Ausflugslokal Richtershorn, dem wahrscheinlich östlichsten Western-Restaurant der Stadt. Es liegt am äußersten Ende von Grünau, wo ich es bei einem Uferspaziergang entlang der Dahme entdeckte. Ich bestellte den Bacon-Burger („Bäikn-Börjer, kommt sofort“) und sah drei Dutzend Line-Dancern zu, die im Lokal Tanzschritte probten. „Links, links, shuffle, kick und tap“, sagte eine Lautsprecherstimme, während Country-Rhythmen durch den Raum hallten. „Seitlich ranziehen, links, Step hinterm Rock, shuffle...“

Verbreiteter als das Tanzen ist in Grünau der Wassersport. Die alte Regattastrecke auf der Dahme wird zwar nicht mehr für die ganz großen Ruderwettbewerbe genutzt, für die sie Ende des 19. Jahrhunderts angelegt wurde, doch Amateure sah ich in allen nur denkbaren Schiffsgattungen zwischen den Bojenketten, vom Drachen- bis zum Tretboot.

Der einzig Laute hier: ein Verrückter aus Neukölln

Auf der Terrasse des Bürgerhauses an der Regattastraße platzte ich mitten in eine Skatrunde. Zwei Dutzend ältere Leute saßen am Flussufer und kloppten Karten. Es war ein friedliches Bild, bis plötzlich ein schnauzbärtiger Mann die Terrasse stürmte, der erst mit der Kellnerin stritt und dann fluchend von Tisch zu Tisch zog. „Hausverbot? Verdammte Kacke, ich hör wohl nicht richtig! Ich soll mich benehmen? Halt's Maul, alte Schachtel, was bildest du dir ein?“

Die Spieler schüttelten stumm die Köpfe, sie schienen solche Ausbrüche zu kennen. Eine Dame beugte sich grinsend zu mir herüber. „Der kommt aus Neukölln“, flüsterte sie. „Da redet man so.“ Als sich der Schreihals verzogen hatte, erzählte mir eine der Spielerinnen, dass das Bürgerhaus einst einem Schneider gehört hatte. Weil der in dunklen Zeiten Uniformen für die Nazis genäht hatte, verließ er nach dem Krieg vorsichtshalber den sowjetischen Sektor und zog nach Bayern. Das Haus übernahm die Stasi, die von hier aus den in Grünau lebenden Schriftsteller Stefan Heym bespitzelte.

Ost trifft Western: Ein Trabi vor dem Restaurant Richtershorn.
Ost trifft Western: Ein Trabi vor dem Restaurant Richtershorn.

© Jens Mühling

Nach der Wende fanden sich Erben des Schneiders, die das Haus einem Grünauer Bürgerverein zur Nutzung überließen. Seitdem finden hier neben Skatrunden auch Keramikkurse statt, Konzerte, Lesungen, Englischstunden und Disco- Abende („Coole Drinks und heißer Beat durch fünf Jahrzehnte mit dem Grünauer DJ-Team“).

Die vorbeiziehenden Boote ließen mich an Fontane denken, der Grünau vom Wasser aus besichtigte und sich in seinen „Wanderungen“ über die verspielten Villen am Dahme-Ufer lustig machte. „Der Bourgeois unserer östlichen Stadtviertel“, schrieb er, „gefällt sich darin, seinen ,Donjon' (Schlossturm) und, wenn es sein kann, selbst seinen ,Beffroi' (Wartturm) zu haben“. Der Ost-Bourgeois von heute dagegen scheint jene quadratisch-praktisch-puristischen Apartmentblöcke zu bevorzugen, mit denen im Grünauer Nordwesten gerade großflächig das Ufer zugebaut wird. Im Grunde sehen sie nicht viel anders aus als die Betonquader, die hier zu DDR-Zeiten entstanden. Wie gesagt, man muss nur stur genug nach Osten laufen, um im Westen zu landen.

Fläche: 9,13 km² (Platz 41 von 96)
Einwohner: 6032 (Platz 86 von 96)
Durchschnittsalter: 47,9 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Stefan Heym, Eberhard Panitz (beide Schriftsteller)
Gefühlte Mitte: Bürgerhaus

Diese Kolumne erschien am 23. September 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin. Alle Folgen lesen Sie hier.

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