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Höher geht's nicht. Das Ideal-Gebäude in Gropiusstadt ist Berlins höchstes Wohnhaus.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Gropiusstadt: Wo Christiane F. Sahnetorte isst

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 28: Gropiusstadt.

Der berühmteste Satz über Gropiusstadt geht so: „Überall nur Pisse und Kacke.“ Christiane F. hat das gesagt, es sind die Worte, mit denen „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ anfängt. „Am meisten stinkt’s in den Treppenhäusern. Was sollen die Kinder denn machen, wenn sie draußen spielen und mal müssen? Bis der Fahrstuhl kommt und sie im elften oder zwölften Stock sind, haben sie schon in die Hose gemacht und bekommen Prügel. Dann machen sie lieber gleich in den Hausflur.“

Als ich den 13-Stöcker im Joachim- Gottschalk-Weg betrat, in dem die reale Christiane F. aufgewachsen ist, war ich überrascht, weder Exkremente noch Spritzen vorzufinden. Putzmittelgeruch lag in der Luft, und das Schmutzigste, was mir begegnete, war eine Edding-Kritzelei an der Wand: „Fick Fatima“.

Ich fand keinen Hausbewohner, der sich an Christiane F. erinnern konnte. Kein Wunder, ist ja auch vier Jahrzehnte her inzwischen, dass sie hier lebte. Während ich zwischen den Hochhäusern umherlief, die ihre Kindheit geprägt hatten, hing ich konjunktivischen Fantasien nach: Ich versuchte mir vorzustellen, was wohl aus Gropiusstadts berühmtester Bewohnerin geworden wäre, wenn sie ihr weiteres Leben hier verbracht hätte, statt dem Ruf der Drogen in die Welt zu folgen.

Vielleicht würde sie dann heute im „Brinks Treff“ an der Lipschitzallee kellnern, wo samstags Karaoke-Abend mit DJ Bernd ist und bei jedem Hertha-Tor in der Bundesliga ein Kurzer aufs Haus geht. Oder sie würde nebenan Haare schneiden, bei Mac Hair, dem Familienfriseur mit den günstigen Preisen. Vielleicht wäre sie auch eine der beiden älteren Damen, die ich vor dem Eiscafé Mimoza sitzen sah. „Weißt du“, sagte die eine, bevor sie sich mit zittrigen Fingern ein Stück Sahnetorte in den Mund schob, „je älter du wirst, desto schneller geht alles.“

Ich stellte mir vor, dass Christiane F. als Verkäuferin in den Gropius-Passagen arbeitete, in einem der Modeläden, wo sie sich darüber wunderte, dass die jungen Mädchen jetzt wieder fast die gleichen Klamotten trugen wie sie selbst in ihrer Jugend. Vielleicht wäre sie auch die Großmutter des traurigen kleinen Jungen, der mich vor einem Hochhauseingang am Höltermannsteig ansprach: „Entschuldigung, können Sie mal gucken?“ Als ich nickte, zeigte er mir Fußballtricks, für die es in seinem Leben offenbar keine anderen Zuschauer gab.

Möglich, dass Christiane F. jetzt im Ideal-Haus an der Fritz-Erler-Allee leben würde, dem höchstem Wohngebäude der Stadt, wo alljährlich der „Tower Run“ ausgetragen wird: zu Fuß vom Erd- bis ins Dachgeschoss, 90 Höhenmeter, 31 Stockwerke, 465 Stufen, derzeitiger Rekord: 3 Minuten, 16 Sekunden.

Ein letztes Mal musste ich an Christiane F. denken, als ich im Goldammerweg vor Berlins ältester erhaltener Windmühle stand, der „Jungfernmühle“, die so heißt, seit im Jahr 1757 die junge Müllerstochter von einem Flügel erfasst und zerschmettert wurde. Als das geschah, stand die Mühle noch in Potsdam. Erst 1872 wurde sie an ihren heutigen Standort versetzt, wo sie nun funktionslos zwischen den Hochhäusern steht und Passanten daran erinnert, wie plötzlich sich das Leben ändern kann. Ob Christiane F. die Mühlengeschichte kannte? Jens Mühling

Fläche: 2,66 km² (Platz 86 von 96)

Einwohner: 36961 (Platz 38 von 96)

Durchschnittsalter: 46,1 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Walter Gropius (Architekt), Christiane F. (Buch- und Film-Heroine)

Gefühlte Mitte: Gropius-Passagen

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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